Autonomes Fahren für Blinde

Wer nichts oder nur schlecht sieht, ist für Reisen von Tür zu Tür heute auf die Unterstützung anderer Menschen angewiesen. Autonome Autos könnten für Blinde und Sehbehinderte deshalb zu einer echten Revolution werden.

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Elizabeth Woyke
Inhaltsverzeichnis

Für ein paar Tage in diesem August diente der Parkplatz der Perkins School for the Blind als Testumgebung, in der ein von einem Laptop gesteuerter Golfwagen Schüler und Mitarbeiter durch die Gegend chauffierte. Der Prototyp stammte von Optimus Ride, einem Start-up aus dem US-Bundesstaat Massachusetts, das Technologien für autonom fahrende Elektroautos entwickelt.

Die Strecke war zwar nur kurz und zuvor einprogrammiert. Trotzdem sorgte der Test für Begeisterung an der Perkins School, der ältesten US-Schule für Blinde und Sehbehinderte, die vor Ort und anderswo im Land hunderte Menschen ausbildet. Denn autonome Fahrzeuge könnten, wenn sie barrierefrei gestaltet sind, das Leben von Blinden revolutionieren. Je näher das Versprechen von wirklich autonomen Autos der Realisierung kommt, desto aktiver bringen sich Blinden-Organisationen deshalb in deren Entwicklung ein.

"Autonome Autos werden für blinde Menschen eine transformative Rolle spielen", sagt Dave Power, President und CEO der Perkins School. "Sie werden damit zum ersten Mal unabhängig und ungeachtet der Entfernung zur Schule, zur Arbeit oder zu Freizeitaktivitäten fahren können. Blinde hier und im ganzen Land sind absolut begeistert von dieser Aussicht."

Blinden-Verbände setzen sich dafür ein, dass die Hersteller ihre autonomen Autos von vornherein behindertengerecht gestalten statt Spezialfahrzeuge für Menschen mit Sehproblemen zu entwickeln, die prohibitiv teuer würden.

Weil Power früher selbst Manager in der Technologiebranche war, geht er davon aus, dass die Unternehmen die Bedürfnisse von Blinden nicht von sich aus berücksichtigen werden. Also lädt er seit Kurzem Technologiefirmen auf den Perkins-Campus ein, damit sie ihre Technologien vorführen und Rückmeldungen dazu bekommen können. "Wir wollen den Unternehmen dabei helfen, Barrierefreiheit in ihren Konzepten zu berücksichtigen und von Anfang an auch an Blinde zu denken", erklärt er.

Optimus Ride war das erste Unternehmen, das die Einladung von Power angenommen hat. Neben den Testfahrten auf dem 150.000 Quadratmeter großen Schul-Campus gab es eine Brainstorming-Session zu der Frage, wie autonome Autos für Blinde gestaltet sein sollten und wie sie als Shuttles auf großen Geländen dienen könnten.

Mitarbeiter der Schule haben dem Start-up nach eigener Aussage viele Anregungen mitgegeben. Beispielsweise empfahlen sie genügend Platz im Innenraum, so dass auch Blindenhunde mitfahren können. Ebenfalls betonten sie, dass eine nicht-visuelle Bedienschnittstelle zur Kommunikation mit dem Auto erforderlich sei. So könnte eine Touchscreen-Steuerung mit Sprachausgabe und haptischen Rückmeldungen ergänzt werden. Ähnliche Möglichkeiten bieten zum Beispiel Apple-Smartphones schon heute.

Der Blindenverband American Council of the Blind (ACB) beobachtet unterdessen die Gesetzgebung in den Bundesstaaten, um zu verhindern, dass blinden Menschen das Fahren von autonomen Autos verboten wird. In einem Gesetzesentwurf für Nevada beispielsweise wäre dies beinahe geschehen, doch der Verband bat die Parlamentarier, den Text weniger restriktiv zu formulieren, wie ACB-Präsidentin Kim Charlson erklärt. "Unserer Meinung nach sollte Blindheit kein Grund dafür sein, solche Autos nicht benutzen zu dürfen", sagt sie. "Ganz im Gegenteil: Sie sollte eher ein Grund sein, dass wir genau das dürfen."

Wie andere Vertreter der Blinden-Gemeinschaft freut sich Charlson auf eine Zukunft mit vollständig autonomen Autos, in der Blinde mit dem Fahren nichts zu tun haben und bei Problemen die Behörden verständigt werden. Teilautonome Autos, die noch einen sehenden Fahrer erfordern, wären nach ihren Aussagen keine echte Erweiterung der Möglichkeiten. Mit Freunden und Familienmitgliedern mitfahren, ein Taxi oder ein Uber-Auto nehmen oder spezielle Fahrdienste nutzen, können Blinde schließlich auch heute schon.

"Autonome Autos sind die Zukunft", fügt Charlson hinzu. „Mein Ziel ist, dass auch blinde Menschen gleichermaßen Teil dieser Zukunft sein können.“ Zumindest bei dem deutschen Hersteller Volkswagen scheint man diesen Wunsch zu teilen: Johann Jungwirt, Leiter der Digitalisierungsstrategie bei dem Unternehmen, erwähnte bereits in diesem Frühjahr in einem Interview explizit die Vorteile von autonomem Fahren für Blinde und andere Menschen mit Einschränkungen. (sma)