Läuft künftig alles mit Strom?

Wenn das Ölzeitalter wirklich zu Ende gehen soll, muss mehr passieren als der Umstieg auf Elektroautos.

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Von
  • Katja Scherer

Der globale Ölrausch begann mit einer halb vollen Badewanne. Damit bewies der Amerikaner Edwin L. Drake 1859 nach jahrelangen Misserfolgen, dass die Förderung von Öl mit vertretbarem Aufwand möglich ist. Heute sprudeln jeden Tag unzählige Barrel aus dem Boden. Wegen Öl führen Menschen Krieg und zerstören die Umwelt. Denn wer Öl hat, hat Macht – so war es zumindest in den vergangenen Jahrzehnten.

Derzeit aber ändert sich das. Schon seit Jahrzehnten wächst der Anteil der Elektrizität am globalen Endenergieverbrauch am stärksten. Das US-Energieministerium geht davon aus, dass die weltweite Stromerzeugung bis 2040 um knapp 70 Prozent ansteigt – auf 36,5 Billionen Kilowattstunden. Auch in Deutschland ist die erzeugte Strommenge in den letzten Jahrzehnten leicht gestiegen, 2015 lag sie bei rund 650 Milliarden Kilowattstunden.

Der Trend wird sich verschärfen. Denn ein immer größerer Teil des Stroms stammt aus erneuerbaren Quellen wie Wind und Sonne – im vergangenen Jahr etwa 35 Prozent. Da ihre Produktion wetterabhängig und schlecht steuerbar ist, müssen die Schwankungen ausgeglichen werden. Das aber dürfte nur gelingen, wenn völlig neue Bereiche elektrifiziert werden. Strom wird also nicht nur Autos antreiben, sondern auch Wärme erzeugen und in Raffinerien zum Einsatz kommen, um Wasserstoff oder Methan herzustellen. "Wir müssen die anderen bisher nicht-elektrischen Energiesektoren zunehmend an den elektrischen Sektor anbinden", sagt Clemens Hoffmann, Leiter des Fraunhofer-Instituts IWES in Kassel.

Am offensichtlichsten ist diese Entwicklung im Verkehrswesen. Wer will, kann schon heute nahezu ölfrei durch die Straßen fahren. 2015 wurden zwar nur gut 23 000 Fahrzeuge mit Elektroantrieb neu zugelassen – sei es als reines E-Auto oder als Plug-in-Hybridmodell mit zusätzlichem Verbrennungsmotor; im Vergleich zu den 3,2 Millionen Pkws insgesamt ist die Zahl vernachlässigbar. Doch das dürfte sich künftig ändern. Zum einen fallen die Batteriepreise und damit die Kosten für E-Autos schneller als vielfach prognostiziert.

Zudem zahlt die Bundesregierung Käufern nun einen Zuschuss von 4000 Euro für reine Elektroautos und 3000 Euro für Plug-in-Hybride. Experten sind sich sicher, dass sich die Technologie langfristig durchsetzen wird. "Denkbar ist zum Beispiel, dass Menschen in Zukunft elektrische Fahrzeuge besitzen und nur noch für längere Reisen ein benzingetriebenes Fahrzeug von einem Dienstleister anmieten", so Hoffmann.

Steigt die Verbreitung der E-Autos, dürften ihre Akkus nicht nur Menschen von A nach B bringen. Sie könnten im Zusammenspiel einen großen dezentralen Speicher bilden, in dem überschüssiger Strom aus erneuerbaren Quellen aufbewahrt wird. Energiesystem und Verkehrssektor werden eine Einheit.

Wie das konkret aussehen kann, lässt sich derzeit bereits in Großbritannien beobachten. Anfang Mai stellte der Autobauer Nissan dort gemeinsam mit dem internationalen Stromkonzern Enel ein sogenanntes Vehicle-to-Grid-System vor. An insgesamt hundert Teststationen können die Fahrer von Elektroautos ihre Wagen künftig nicht nur aufladen, sondern den in ihrer Batterie gespeicherten Strom auch an das nationale Stromnetz verkaufen.

Auf diese Weise wolle man den Kunden einen finanziellen Anreiz für nachhaltige Mobilität liefern, so der Hersteller. Im Januar wurden bereits 40 Stationen dieser Art in Dänemark aufgestellt. "Um solche Szenarien flächendeckend zu realisieren, ist es wichtig, so bald wie möglich standardisierte und intelligente Schnittstellen zu schaffen, über die die Verteilung des Stroms organisiert wird", sagt Frank Truckenmüller, Professor für dezentrale Energiesysteme und Energieeffizienz an der Fachhochschule Reutlingen.

Auch an anderer Front setzen sich elektrische Lösungen zunehmend durch. Von der breiten Öffentlichkeit eher unbemerkt gewinnt Strom beim Heizen von Einfamilienhäusern wieder an Bedeutung. Eine der zentralen Technologien dafür ist die Wärmepumpe. Dabei wird Wärme aus der Luft oder der Erde über das Heizungssystem in die Wohnung geleitet. "Wir erreichen derzeit eine Phase, in der sich viele dieser Systeme auch finanziell gegenüber den klassischen Heizungen rechnen", sagt Hoffmann. Durch den Einsatz einer Kilowattstunde elektrischen Stroms erhalte man bis zu vier Kilowattstunden Wärme.

Bisher werden Wärmepumpen meist mit Strom vom örtlichen Energieversorger betrieben. Ebenso gut kann der Strom aber auch von einer Photovoltaikanlage auf dem eigenen Dach stammen. Diese Variante bieten zum Beispiel der Wärmepumpenhersteller Stiebel Eltron oder der Photovoltaikspezialist Centrosolar an. Damit sich das Heizen mit Strom im Vergleich zu einer konventionell betriebenen Anlage rechnet, sollte ein Haus allerdings gut gedämmt sein: Dann reicht auch eine kleine Wärmepumpe.

Noch im Forschungsstadium steckt dagegen die Umwandlung von Elektrizität in Wasserstoff oder Methan. Beide lassen sich entweder als Rohstoff für die Chemieindustrie verwenden oder wieder verstromen. Die Verfahren sind derzeit zu teuer, aber Konzerne wie ThyssenKrupp arbeiten daran, den Preis zu senken. Denn mit der Technologie ließe sich der Strombedarf langfristiger als mit Akkus speichern. Erste Anbieter wie das Rostocker Start-up Exytron entwickeln sogar bereits kleinere, dezentrale Power-to-Gas-Speicher für den Hausgebrauch.

"Generell ist zu beobachten, dass die technologische Vielfalt stark zunimmt", sagt Truckenmüller. "Wo früher nur ein Heizkessel im Keller stand, werden in Zukunft unterschiedliche Geräte je nach Bedarf kombiniert." Bis sich all diese Konzepte flächendeckend durchsetzen, werden zwar Jahrzehnte vergehen. IWES-Chef Clemens Hoffmann ist jedoch sicher, dass sich der Aufwand lohnt: "Elektrische Fahrzeuge, aber auch Wärmepumpen sind gemessen am primären Energieeinsatz mindestens dreimal effizienter als die konventionellen Technologien."

Das 21. Jahrhundert könnte so zum Beginn eines neuen Stromzeitalters werden. Und das, obwohl die ersten Windräder nicht weniger belächelt wurden als Ölpionier Edwin L. Drake bei seinen Bohrungen. (bsc)