Vernetzlichkeit

Was würden Geheimdienste ohne die Fehlerhaftigkeit von Software und die Überkomplexität von Hardware tun?

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Von
  • Peter Glaser

Durch nichts lässt sich der vermeintliche Reichtum an Information besser veranschaulichen als durch die Magie großer Zahlen. Die Hieroglyphe, mit der die alten Ägypter eine Million darstellten, zeigt anschaulich einen Mann, der auf die Knie gefallen ist und die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Aber wer hatte schon so viel zu zählen? Heute hat jeder eine Maschine, die rasende Zahlenkolonnen aufsummiert, in Bilder, Töne und Texte verwandelt und über ein lichtschnelles, stoffloses Bewässerungssystem namens Internet in die ganze Welt fließen lässt. Je besser vernetzt wir sind, desto anfälliger wird unsere Gesellschaft für elektronische Einflussnahmen aller Art, ob fehlergesteuert oder absichtsvoll. Skeptiker sehen den digitalen Wandel nicht als Verheißung, sondern als einen Weg ins Chaos, der irgendwann wieder in eine nichtvirtuelle Welt zurückführen müsse. Nachdem mit der GPS-Navigation der jahrhundertelang in der Seefahrt bewährte Sextant abgekommen war, führte die US-Navy im Oktober 2015 wegen der zunehmenden Cyberrisiken wieder die astronomische Navigation ein. Und ein russischer Geheimdienst, so hört man, soll wieder Schreibmaschinen bestellt haben, da sie sich nicht so einfach hacken lassen.

Wir alle geben uns einer gigantischen Illusion hin. Wir glauben, dass Computer uns dabei helfen, Dinge zu ordnen. Stets wie mit dem Lineal gezogen stehen akkurate Zeilen auf dem Bildschirm. Inzwischen ist die Technologie tatsächlich so weit fortgeschritten, dass sie uns nicht nur erlaubt, alte Unordnungen ohne Abstriche in den Computer zu übernehmen, sondern sie noch weit zu übertreffen. Mit dem Internet hat der Mensch eine vollkommen neue Dimension des Durcheinanders erschaffen. Das Netz ermöglicht es uns nun, nicht mehr nur Bücher und Zettel durcheinanderzuschmeißen, sondern Medien aller Art. In gordischen Knoten aus Hyperlinks ist die ganze Welt in die Globalisierung der Unaufgeräumtheit eingebunden.

Die Auflösung der bestehenden Ordnung und der Weg ins Chaos gehören zum Programm der Computerrevolution. Herkömmliche Kulturmoleküle werden wieder in ihre Atome zerlegt – Musik-Alben zerfallen im Netz wieder in einzelne Tracks, Zeitungsrubriken in einzelne Artikel, die wie Konfetti durch die sozialen Netze schweben. Diese digitale Kernspaltung gehört zum grundlegenden Funktionsprinzip des Internets: die neuartige Idee der "digitalen Paketvermittlung", bei der Informationen in einzelne Datenpäckchen zerlegt werden, die sich idealerweise automatisch einen eigenen Weg durchs Netz suchen, weniger ausgelastete Leitungen nutzen und defekte Verbindungen umgehen.

Ein bedeutender Konstruktionsfehler des Ganzen: Zwar lässt sich stets der Empfänger eines Datenpäckchens identifizieren, der Absender kann sich aber anonymisieren oder maskieren. Ob der Angriff auf die Rechner eines amerikanischen Wasserwerks von einem russischen Hacker in einem Internetcafe in San Francisco aus gestartet wird oder von chinesischen Behörden-Nerds, die sich als Nordkoreaner ausgeben, lässt sich nicht mehr sagen. Heute bedeutet Macht den richtigen Umgang mit Fehlern. Computer ermöglichen es uns, so viele Fehler in so kurzer Zeit zu machen wie noch nie zuvor in der Geschichte. Die ganze Computerindustrie baut auf immer neue, bereinigte Versionen von Hardware und Software, in die sich bei Updates neue Fehler einschleichen oder eingebaut werden. Was würden Geheimdienste ohne die Fehlerhaftigkeit von Software und die Überkomplexität von Hardware tun? Die NSA beschäftigt mehr als 30.000 der besten Mathematiker der Welt, um digitale Fehler vor allen anderen zu entdecken und auszunutzen.

Tatsächlich brauchen wir Fehler. Wir entkommen ihnen ohnehin nicht, und ohne Fehler gäbe es keine Evolution – ob es sich nun um ein Computerprogramm handelt, um die Biosphäre oder das gesamte Universum. In vielen Fällen sind Fehler Ausgangspunkte großartiger Entwicklungen. Wenn ein System keine Fehler mehr zulässt, kann es sich nicht mehr entwickeln. Es ist paradox, dass Utopien gewöhnlich in einem Endzustand anlangen, in dem es keine weitere Veränderung mehr gibt. Für die alten Ägypter war der Kampf gegen das Chaos unvermeidlicher Bestandteil des Weltenlaufs. Jeden Morgen und jeden Abend greift die Schlange des Chaos die Barke an, auf der die Götter die Erde umfahren, und jedesmal wird sie getötet, ihr Blut färbt das Morgenrot und das Abendrot. Und jedesmal greift sie von neuem an. (bsc)