Mehr als VR

Während Fakten hinter Fake News verschwinden und die Digitalisierung Papierbücher entstofflicht, sammelt ein Mann die Bücher, die wir alle nicht gelesen haben.

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Peter Glaser

Der virtuelle Grundstein für die Bibliothek ungelesener Bücher wurde bereits 1997 gelegt. Begonnen hat alles im damals noch im Bau befindlichen neuen Museumsquartier Wien. Ursprünglich war ein sogenannter "Leseturm" geplant, der aber aus Kostengründen gestrichen wurde. Aus Zorn und Trotz über diese Austreibung der Bücher gründete der in Klagenfurt geborene Künstler und Autor Julius Deutschbauer eine Bibliothek, in der er die Lieblings-Nichtgelesenen Bücher der Menschen zu sammeln begann.

Das heißt: Deutschbauer führt Gespräche mit Lesern über Bücher, die sie nicht gelesen haben und sammelt diese Gespräche beziehungsweise die Transkripte davon. Und die Bibliothek ungelesener Bücher gibt es nicht nur im Netz, sondern auch physisch. Er kauft jedes besprochene Buch auch an, bei Mehrfachnennungen entsprechend mehrfach.

Seither ist diese besondere Bibliothek auf inzwischen über 800 Bücher angewachsen. Die dazugehörige analoge Bibliothek der nach den Gesprächsvorgaben gekauften Bücher wandert nomadisch nicht nur durch den deutschen Sprachraum, sondern durch die Welt. Nach Aufenthalten unter anderem im Kunsthaus Basel und dem Austrian Cultural Forum New York zog sie aus dem Salzburger Bergdorf Goldegg nach Berlin, reiste von dort wieder nach Wien und machte eine Weile Rast im Musil-Museum Klagenfurt.

Bei den Gesprächen werden Inhalte befragt, die man eigentlich nicht kennen kann. In einem Zeitalter der Fake News ermuntert der Künstler seine Gesprächspartner zu Mutmaßungen, Behauptungen und Ahnungen. Er ruft Erwartungen und Hörensagen ab. "Die meisten Köpfe", so Deutschbauer, "fungieren doch als Bibliotheksräume von Ungelesenem." In Berlin gibt es, gewissermaßen geistesverwandt, das Festival des nacherzählten Films ("Total Recall"), von dem Deutschbauer sich wünschen würde, dass dort auch nur Filme nacherzählt werden dürften, die man nicht gesehen hat.

Zeitungskolumnen a la "Was ich lese" waren ein weiterer Anlass für die Bibliothek ungelesener Bücher. Wenn man darüber phantasiert, was man über ein ungelesenes Buch gehört oder gelesen hat, entstehen wesentlich interessantere Erzählungen, als wenn jemand endlos sein Lieblingsbuch nacherzählt. Das kann manchmal ziemlich nervtötend sein, und ein Mittel, sich dagegen zu wehren, ist, zu sagen: Kenn ich!

Einige der Projekte existieren nur symbolisch. So gibt es etwa den Entwurf einer Videothek ungesehener Filme, eine Art Anti-Netflix. Aber Deutschbauer will nicht einfach nur immer weiter alles Nichtgetane dokumentieren. "Ich kann", sagt er, "ja nicht für ein jedes Un- dieser Welt zuständig sein. Vielleicht gründe ich aber noch ein Flüchtlingslager nie angekommener Flüchtlinge."

Unter den Büchern, die besonders gern nicht gelesenen werden, führt nach Auskunft des Experten die Bibel, dicht gefolgt von Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" – dieses Buch ist wohl das schlechte Buchgewissen der Österreicher. Danach kommen "Ulysses" von James Joyce und "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust. "Das Kapital" von Karl Marx und Adolf Hitlers "Mein Kampf" liegen gleichauf knapp dahinter. "Das", merkt Deutschbauer an, "haben die sich wohl auch anders erträumt." Unter "Schon wieder eine Ausstellung/Aufführung, die ich nicht gesehen habe" schreibt er auch Kritiken. Dazu sieht er sich jede Aufführung an, über die er schreibt, allerdings nur in seiner Vorstellung. Stattdessen sitzt er zeitgleich mit der Premiere an einer Kritik über genau jenes Stück, das er gerade versäumt. Virtualisierung einmal anders.

Ist das jetzt Angeberei, Notwehr oder kreativer Spass, wenn man sich über etwas Ungelesenes ausläßt? "Angeberei", sagt Deutschbauer. "Der Spaß liegt auf meiner Seite. Der macht's wohl aus, dass es mich nach einer solchen Fülle von Interviews immer noch vergnügt, nach Ungelesenem zu fragen." Von der Idee, die Schraube weiterzudrehen und eine Bibliothek der uneingescannten Bücher zu eröffnen – die rasch immer kleiner würde –, hält er wenig. "Da würde niemand mehr lesen, nur noch "copy & paste" machen". In seiner Bibliothek ungelesener Bücher wird ja ab und zu sogar gelesen, heimlich natürlich. Einmal im Monat lädt Deutschbauer zu "Lesen und Handarbeiten im Zirkel" in seine Bibliothek ein, alkoholische Getränke inklusive. Speisen sind streng verboten, denn "nichts hasse ich mehr als schmutzige Bücher." (bsc)