Dr. Seltsam lebt

Viel gefährlicher als die Interkontinentalrakete der Nordkoreaner ist die Modernisierung des atomaren Arsenals, die derzeit weltweit stattfindet.

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Die gute Nachricht zuerst: Falls irgendein Verrückter beschließt, tatsächlich eine Atombombe auf – sagen wir mal – Berlin zu werfen, ist das kein Weltuntergang. Denn voraussichtlich wird das keine Atombombe vom Hiroshima-Format sein, sondern ein sehr viel kleinerer Sprengkopf. Und wenn man sich nicht gerade im Zentrum der Explosion befindet, sind die Auswirkungen vergleichbar mit einer mittleren Naturkatastrophe wie dem Hurricane Katharina. Wenn man geeignete Schutzräume findet, und sich vor dem radioaktiven Fallout in Acht nimmt.

Das sagt zumindest der Atmosphärenforscher Michael Dillon vom Lawrence Livermore National Laboratory, der dazu zahlreiche Computersimulationen durchgeführt hat (Details dazu in diesem Paper).

Dass ein eher dröges wissenschaftliches Thema mit einem derart morbiden Hintergrund in den USA derzeit große Resonanz findet, dürfte allerdings kein Zufall sein. Seit klar ist, dass die Nordkoreaner nicht geblufft haben, und offenbar tatsächlich über eine atomar bewaffnete Interkontinentalrakete verfügen – nach neusten Erkenntnissen wahrscheinlich aus ukrainischer Produktion – steigt die Nervosität. Dass US-Präsident Donald Trump den Nordkoreanern mit Feuer und Zorn gedroht hat, trägt nicht eben zur Beruhigung bei.

Die zweite gute Nachricht ist aber: Das Risiko eines Atomkrieges ist in den vergangenen 20 Jahren rapide gesunken. Seit dem Höchststand Mitte der 1980 Jahre ist die Zahl der nuklearen Gefechtsköpfe auf unter 20.000 gefallen. Das reicht zwar immer noch, um die Menschheit mehrfach zu vernichten, aber auf dem Höhepunkt des atomaren Wettrüstens waren es knapp 70.000, aber die Kurve zeigt eindeutig nach unten.

Außerdem gehört Säbelrasseln zum Abschreckungs-Handwerk. Obwohl die Drohung mit totaler Vernichtung auf den ersten Blick sehr irrational wirkt, liegt der atomaren Abschreckung durchaus eine perverse Logik zu Grunde, in der die beiden Kontrahenten sich gegenseitig rationales Handeln unterstellen. Das mag zwar im Fall von Trump und Un nicht so aussehen, bei näherer Betrachtung folgen die Nordkoreaner aber einer sorgfältig abgestuften Politik von Aktion und Reaktion. Die Drohung, den US-Stützpunkt Guam anzugreifen beispielsweise war eine Reaktion auf die Stationierung von atomaren Bombern auf diesem Stützpunkt.

Die schlechte Nachricht lautet aber: Möglicherweise funktioniert der Mechanismus der gegenseitigen Abschreckung nicht mehr lange. Denn zum einen arbeiten die USA an einer Modernisierung ihres atomaren Waffenbestandes. So haben sie beispielsweise neue, so genannten Superzünder in Gefechtsköpfen der atomaren U-Boot-Flotte installiert, die die Treffergenauigkeit dieser Waffen enorm erhöht, und rüsten die Fliegerbombe B61 mit Lenkwaffen-Fähigkeiten auf. Experten der "Federation of American Scientists" sind deswegen recht besorgt. Sie befürchten, das Militär arbeite an Szenarien eines begrenzten Atomkrieges.

Nicht minder beunruhigend sind Entwicklungen, die unter dem Stichwort "Prompt Global Strike Weapons" laufen. Ob das US-Militär seinen zahlreichen Projekten, die Russen mit ihrem Objekt 4202 oder die Chinesen mit DZ-ZF – weltweit arbeiten Entwickler an Waffen wie Hyperschallraketen, die so schnell eingesetzt werden können, dass der militärische Gegner damit auf einen Schlag "enthauptet" werden soll. Das ist eine Entwicklung, die uns sehr viel mehr Sorgen machen sollte, als der irrationale Theaterdonner auf der politischen Bühne. (wst)