"Die Leute werden sich fragen, ob sie in einem Science-Fiction-Roman sind"

Michael Abrash, Chefwissenschaftler des Virtual-Reality-Spezialisten Oculus, spricht im TR-Interview über die neuen Erfahrungen, die die Technik den Menschen ermöglichen soll.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 1 Kommentar lesen
Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Rachel Metz

Viele Gadgetfans sind ungeduldig, was die aktuelle Entwicklung in der Virtual Reality anbetrifft. Die besten Headsets sind ihnen noch zu teuer – und sie benötigen mächtige Rechner mit noch mächtigeren Grafikkarten. Außerdem gibt es noch immer nicht genügend "coole" Software.

Michael Abrash, der den Titel "Chief Scientist" bei der Facebook-Tochter Oculus trägt, hat einen längerfristigen Blick auf die Entwicklung der VR. Er konzentriert sich darauf, darüber nachzudenken, wie sich die wirklich großen Verbesserungen erzielen lassen. In seinem Labor wird unter anderem daran geforscht, wie der Nutzer seinen Blick besser auf virtuelle Objekte konzentrieren kann und wie er im virtuellen Raum am besten erfasst wird, um ein realistisches Erlebnis zu garantieren.

Abrash arbeitete zuvor mit dem berühmten Oculus-Technikchef John Carmack am Videospiel "Quake" und war außerdem bei der Spielefirma Valve tätig. Er beschäftigt sich seit Jahren mit VR, findet es aber immer noch spannend, über das Thema zu reden. Im Interview mit Technology Review spricht er über die Forschungsarbeit bei Oculus, die Problemstellungen, die VR-Inhalteproduzenten beschäftigen und die Frage, wie sich VR ingesamt realistischer machen lässt.

Technology Review: Wir wissen noch immer wenig darüber, wie die virtuelle Realität den Menschen auf Dauer beeinflusst. Arbeiten Sie daran auch in Ihrem Labor?

Michael Abrash: An spezifischen Aspekten. Beispielsweise, welchen Unterschied es macht, dass man eine Tiefenschärfe hat. Die Frage, wie VR den Menschen generell verändert, ist ziemlich breit – und ich würde mich nicht festlegen wollen, wie man sie beantworten kann. Das hängt auch damit zusammen, dass wir noch nicht an dem Punkt angelangt sind, dass die Leute Virtual Reality über lange Zeiträume verwenden. Außerdem muss die VR einfach erst gut genug werden, damit man das wirklich richtig untersuchen kann.

TR: Offensichtlich muss man in der virtuellen Realität nicht sehr nach sich selbst aussehen, damit andere einen "erkennen". Die soziale App Facebook Spaces arbeitet so, indem sie die Nutzer als Cartoon-Version ihrer selbst darstellt. Wie erforschen Sie, was uns wirklich zu "uns" macht, damit andere Menschen, die uns in der echten Realität kennen, mit uns auch in VR-Welten interagieren wollen?

Abrash: Was macht uns zu einzigartigen Personen, so dass andere Menschen auf uns so reagieren? Ich denke, dass ist keine Frage des Wortwörtlichen. In unserem Labor in Pittsburgh konzentrieren wir uns darauf, was eine soziale Interaktion überhaupt ist und was hierfür die wichtigen Hinweise in der VR sein können. Wahrscheinlich gibt es Tausende solcher "Cues", aber nur fünf bis zehn sind wirklich wichtig. Und wenn man die abbildet, wären die Nutzer völlig zufrieden, wenn sie eine soziale Interaktion miteinander haben.

Haben Sie gesehen, wie sich Ihre Hände gerade bewegt haben? In der virtuellen Realität könnte es sein, dass ich eine solche, darin übertragene Körpersprache sofort mit ihnen verbinde. Ich würde darüber nicht nachdenken müssen, ich würde einfach fühlen, dass ich mit Ihnen zusammen bin. Es gibt andere Sachen wie die Art, auf die eine Person lächelt oder ihre Augenbraue nach oben bewegt, ihr Nicken oder ihre Handbewegungen oder sogar die Sitzhaltung.

TR: Selbst wenn ich mich mit einer anderen Person in der virtuellen Realität wohlfühle, grenzt dies doch alles noch an ein großes Experiment. Manchmal geht es auch daneben. So musste sich Ihr Chef Mark Zuckerberg dafür entschuldigen, dass er in einem Facebook-Spaces-Live-Chat an einer virtuellen Tour durch das von Wirbelstürmen heimgesuchte Puerto Rico teilnahm. Wie fanden Sie das?

Abrash: Ehrlich gesagt habe ich das noch gar nicht gesehen. Entsprechend haben ich dazu keine Meinung.

TR: VR-Spiele und andere Inhalte werden zunehmend realistisch, darunter etwa ein Kriegsspiel von der Firma Respawn Entertainment, bei dem man sich in die Haut eines Soldaten versetzen kann. Wie sensibel müssen wir bei der Schaffung von VR-Inhalten vorgehen?

Abrash: Ich versuche, eine Plattform zu schaffen, die den Menschen ermöglicht, Inhalte umzusetzen. Die Frage, was hier wirklich wertvoll ist, ist natürlich eine interessante Debatte. Aber das hätte man auch vom Alto im Xerox-PARC-Forschungszentrum sagen können [einem der ersten Rechner mit der heute bekannten Desktop-Metapher, Anm. d. Red.], der letztlich zu Spielen wie "Quake" führte. Da könnte man auch die Frage in den Raum werfen, ob solche First-Person-Shooter-Spiele eine gute oder eine schlechte Sache sind. Und das ist eine legitime Diskussion.

Der Alto führte aber auch zu Textverarbeitungsprogrammen und Tabellenkalkulationen und letztlich auch zum Internet, Twitter, Facebook und so weiter. Technik hat immer ein gemischtes Ergebnis. Bis man eine Plattform geschaffen hat, die es den kreativen Menschen ermöglicht, neue Dinge auszuprobieren, weiß man nie, wo das alles hinführt.

Die Möglichkeiten, die die VR bietet, sind letztlich die, die es auch in der echten Realität gibt. Man wacht am Morgen auf und stellt sich dann die Frage, was man heute wieder sehen und tun wird. Einige der Sachen werden gut sein und andere nicht so großartig – so ist es eben. Die virtuelle Realität ist ein Bereich, der potenziell so groß ist wie die echte Realität. Was schon an sich ziemlich merkwürdig ist.

TR: Das ist in der Tat wirklich sehr komisch.

Abrash: Es wird Tage geben, an denen sich die Leute fragen werden, ob sie in einem Science-Fiction-Roman sind. Es ist ein bisschen so wie die ganze Entwicklung der Kommunikationstechnik und der digitalen Errungenschaften. Da kann man auch bis zu den Höhlenmalereien oder zum Telefonat oder was auch immer gehen. Es geht immer darum, Informationen so zu kodieren, dass man sie nachher in unseren Gehirnen wieder dekodieren kann, damit man sie versteht. Man kann ein Buch lesen und das Gefühl für einen Ort bekommen – aber nie so, wie es ist, wenn man in der virtuellen Realität vor einem Abgrund steht.

Die Tiefe der Erfahrung, die man in VR-Welten haben kann, umfasst den ganzen Menschen. Der Körper ist dafür gemacht, diese Welt zu erfahren, das Gehirn muss sie nicht erneut aus irgendetwas aufbauen. Das ist sehr viel mächtiger.

(bsc)