Digitale Amöben

Der Unterschied zwischen dem ersten, zweiten und dritten Ort verliert an Trennschärfe. Software schafft neue Formen des Soziallebens, läßt aber zugleich die Ränder verschwimmen, die den neuen Zonen Umrisse verleihen sollen.

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Peter Glaser

Als Ray Oldenburg 1989 in seinem Buch "The Great Good Place" den Begriff des dritten Ortes prägte, war seine Definition stimmig. Die von ihm vorgenommene Aufteilung der Lebensbereiche in Zuhause, Arbeitsplatz und öffentlichen Raum traf die Realität. Wo sonst – außer bei der Arbeit – konnte man mit fremden Menschen ins Gespräch kommen als auf einem öffentlichen Platz, in einem Laden, im Café oder in einer kulturellen Einrichtung?

Spätestens seit der Jahrtausendwende hat sich das geändert. Internet, Rechenpower für die Jackentasche und ein Füllhorn voller Apps haben dem realen Raum eine ernstzunehmende virtuelle Dimension hinzugefügt. Man fährt nicht mehr zur Arbeit und kommt abends erledigt nach Haus, sondern die Arbeit fährt durch die Datenleitung ihrer Erledigung entgegen. Sie wird immer zügiger digitalisiert. Wir treffen uns zunehmend in den sozialen Medien (die so sozial gar nicht sind) und haben inzwischen sogar das Kunststück zuwegegebracht, solche körperlich nicht betretbaren Orte mit Hilfe einer Online-Identität trotzdem bewohnen zu können. Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen öffentlich und privat, zwischen online und offline werden osmotisch oder verschwinden ganz.

Tatsächlich haben wir es längst nicht mehr nur mit einer Umwandlung der analogen Welt in eine digitale zu tun. "Es ist noch nicht lange her, dass der Cyberspace ein spezifischer Ort war, den wir regelmässig besuchten und in den wir von der bekannten physischen Welt aus hineingelugt haben", schreibt William Gibson. "Jetzt hat sich der Cyberspace umgestülpt. Das Innere hat sich nach Außen gewendet. Es hat die physische Welt kolonialisiert."

Als Facebook im Februar 2004 ans Netz ging, traf die neue Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu treten (und eine eigene Homepage zu haben, ohne eine Zeile HTML schreiben zu müssen) einen Nerv. Hatte man zuvor online meist mit Maschinen zu tun, so waren es nun Menschen. Das Netz wurde "sozial" – wobei der Begriff sich wandelte. Früher galt jemand als sozial, wenn er sich in besonderem Maß für die Gemeinschaft einsetzte. Im Netz waren es nun kommerziell grundierte Formen von Geselligkeit, die ausprobiert wurden.

Aus Systemen wie Facebook, Twitter & Co. gibt es, ist man einmal drin, offenbar nur noch wenige Wege nach draußen. Soziale Medien sind die Zigarette des 21. Jahrhunderts. Die elektrifizierten Gemeinschaftsformen werden von vielen Menschen als maßgeblicher Teil einer neuen Öffentlichkeit angesehen. Das aber ist ein grundlegender Irrtum. Facebook, Twitter, Google+, LinkedIn, Xing und wie sie alle heißen, sind keine Öffentlichkeit. Es sind Verfügungsbereiche von Privatunternehmen, in denen Hausrecht gilt, wie in einem Einkaufszentrum.

Kafka und Orwell singen nun im Chor: Wer schon einmal auf Facebook – ohne Angabe von Gründen und ohne Einspruchsmöglichkeit, nur mit Verweis auf einen schwammigen Verhaltenskodex – aus seinem Nutzerkonto und also seiner digitalen Identität ausgesperrt wurde, kennt das absurde Gefühl, sich plötzlich in einer Live-Version des Romans "Der Prozeß" zu befinden, in dem die Hauptperson verhaftet wird und vergeblich herauszufinden versucht, weshalb sie angeklagt ist.

Andererseits wird es den Nutzern sehr einfach gemacht, Kontakte zu knüpfen. Schwieriger wird es, sie auch zu pflegen. Wenn man jemanden nicht mehr mag, kann man ihn einfach abschalten. Unterschätzt wird immer noch gern, dass durch den körperlosen Austausch nicht nur neue Potentiale der Verständigung entstehen, sondern auch neue Formen sozialen Versagens – vom Mobbing bis hin zu notorischen Netznervensägen.

Social Media ist ein Symptom eines umfassenden gesellschaftlichen Wandels. Vormals private Bereiche weichen einer lichtdurchfluteten Transparenz, in der sich eine Gesellschaft sonnt, der die Lust am Geheimnis abhandengekommen zu sein scheint. Zog man sich einst ins Private zurück, so ist Visibility heute zu einer Überlebensnotwendigkeit geworden – Sichtbarkeit im Netz. Die Folge ist eine zunehmende Entgrenzung und Verschmelzung von ersten, zweiten und dritten Orten. Die Wohnung, in der man vormals lebte, um tagsüber in einem aushäusigen Büro zu arbeiten, kann heute All-in-one sein: Rückzugsort, Arbeitsplatz und Begegnungsraum.

Aber so wie alles Analoge, ist auch der Reiz dieses Refugiums vom Verblassen durch das gleissende Licht bedroht, das eine digitale Sonne ausstrahlt und das, fast unaufhaltsam wie Neutrinos, Wände, Ränder und Grenzen obsolet macht.

(bsc)