Science Fascism

Klassiker neu gelesen: Die „Anticipations“ von H.G. Wells (1901) lagen in vielem ziemlich richtig. Und in einigem fürchterlich falsch.

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Herbert George Wells (1866 – 1946) gilt als Urvater der Science Fiction. Weniger bekannt ist, dass er ursprünglich durch ein Sachbuch berühmt wurde: „Anticipations“ von 1901, eine Vorschau auf das Jahr 2000. Seine heutigen Klassiker „Die Zeitmaschine“, „Die Insel des Dr. Moreau“, „Der Unsichtbare“ und „Krieg der Welten“ hatte Wells damals bereits veröffentlicht, aber erst mit „Anticipations“ gelang ihm der Durchbruch.

Wer sich nicht vom ausschweifenden viktorianischen Englisch abschrecken lässt, findet in dem Buch erstaunlich weitsichtige Vorhersagen dicht neben (aus heutiger Sicht) bemerkenswert engstirnigen. So sieht Wells etwa die Zersiedelung der Landschaft durch schnelle Züge und Autos voraus. Außerdem kommt er zum durchaus zutreffenden Schluss, dass Familien dank neuer Technologien keine Hausangestellten mehr brauchen werden. Dann aber kreist er lange um die Frage, was das für die Hausfrau der Zukunft bedeutet. Berufstätige Frauen lagen offenbar jenseits seines Vorstellungsvermögens.

Dichter an der späteren Realität war seine Prognose, dass die Staaten auf einen großen Krieg zusteuern, und dass dieser durch industrielle Rüstung monströser werde als je zuvor. Diese neue Technik besteht für ihn allerdings in erster Linie aus Luftschiffen sowie Scharfschützen auf Fahrrädern. Flugzeuge hatte H. G. Wells zwar im Blick, aber für eine weiter entfernte Zukunft. „Sehr wahrscheinlich schon vor 1950“ erwartete er erfolgreiche Starts.

Politisch prophezeit Wells die Verschmelzung westlicher Staaten zu einer „Neuen Republik“, worin man mit etwas Wohlwollen die EU und die Globalisierung erkennen kann. Allerdings zerfalle diese Gesellschaft laut Wells in vier Klassen: Erstens reiche, aber nichtsnutzige Anteilseigner und Kapitalisten, zweitens fähige Ingenieure und Technokraten, drittens unproduktive Manager und Verwalter, und schließlich eine Unterschicht aus asozialen Abgehängten und Menschen nicht-weißer Haut.

Die logische Folge daraus war für Wells aber keine soziale Revolution, sondern Eugenik und Euthanasie. „Es wurde offensichtlich, dass große Teile der menschlichen Population als Ganzes minderwertig sind“, schreibt er im letzten Kapitel. „Die Fortpflanzung von Kindern, die durch Umstände ihrer Abstammung körperlich oder geistig krank sein müssen, ist die abscheulichste aller vorstellbaren Sünden.“ Also sei es die vornehmste Aufgabe kommender rationaler und unsentimentaler Eliten, diesen „Abgrund“ an der Fortpflanzung zu hindern oder gleich umzubringen: „In der neuen Vision ist der Tod kein unaussprechlicher Schrecken mehr, sondern das Ende aller Schmerzen.“

Dass Wells‘ Vorstellungen seinerzeit sehr verbreitet waren, dass er sich selbst als Sozialist betrachtete und zu den Gründern der Labour Party gehörte, dass er sich später von solchen Worten distanziert und für die Menschenrechte eingesetzt hat – all dies mag man als mildernde Umstände gelten lassen. Trotzdem ist es lupenreiner Faschismus, den Wells hier wiederholt und explizit zu Papier bringt.

(grh)