Libertärer Steampunk

Klassiker neu gelesen: Ayn Rands "Atlas Shrugged" erklärt das Misstrauen der Amerikaner gegen den Staatsapparat.

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Obwohl in Europa kaum bekannt, zählt Ayn Rand zu den polarisierendsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts. Bei einer Umfrage in den USA kam ihr Hauptwerk „Atlas Shrugged“ auf Platz zwei der Bücher, die das Leben ihrer Leser am stärksten verändert haben – direkt hinter der Bibel. Vor gut 60 Jahren, im Oktober 1957, ist es veröffentlicht worden – und verkauft sich besser denn je.

Ayn Rand kam 1905 als Alissa Sinowjewna Rosenbaum in St. Petersburg zur Welt. Ihre Elternwurden nach der Oktoberrevolution von den Bolschewiken enteignet. 1926 wanderte sie in die USA aus. Ihre Erfahrungen mit dem Kommunismus verarbeitete sie in literarischen und philosophischen Texten.

Wer das Denken des libertären Amerikas verste hen will, müsse Ayn Rand lesen, heißt es oft. Was also hat uns „Atlas Shrugged“ (deutsch: „Der Streik“) heute noch zu sagen?

Was als Erstes auffällt: Das 1200-Seiten-Werk ist eher in einer alternativen Vergangenheit als in der Zukunft angesiedelt, in einer dystopischen Gründerzeit voller Eisenbahnen, Hochöfen, Bergwerke und Raffinerien. Die USA wurden von einer verfilzten, gleichmachenden Politik heruntergewirtschaftet. Rohstoffe und Fachkräfte sind kaum aufzutreiben, ständig entgleisen Dampfloks. Eine Art Steam Punk, der schon zur Zeit der Veröffentlichung leicht anachronistisch gewirkt haben musste.

Ähnlich anachronistisch ist auch die Wirtschaftsordnung: Heroische Firmenlenker kämpfen einsam gegen die Gleichgültigkeit der Masse – allen voran Dagny Taggart, die junge Erbin eines Eisenbahnimperiums. Doch nach und nach verschwinden alle ihre Mitstreiter auf mysteriöse Weise: Die Stützen der Gesellschaft treten in Streik und stürzen das Land ins Chaos.

Im Grunde gibt es im Roman nur zwei Sorten von Menschen: die visionären, rationalen und von einem gesunden Eigeninteresse getriebenen Großindustriellen und den dumpfen Rest. Die vornehmste Aufgabe des Staates besteht für Rand darin, diesen Antreibern nicht im Weg zu stehen. Um ihre Leser davon zu überzeugen, nutzt sie vor allem ein Stilmittel: die Karikatur. Die Gegenspieler sind allesamt jämmerliche Gestalten, entscheidungsschwach, verantwortungsscheu, schicksalsergeben, intrigant und feige.

Damit macht es sich Ayn Rand ziemlich einfach: Statt sich mit den realen Argumenten realer Gegner auseinanderzusetzen, modelliert sie diese inder Fiktion zu solchen Weicheiern, dass sie sich ohne großen argumentativen Aufwand in Grund und Boden schreiben lassen.

Literarisch kickt sie damit zwar höchstens in der Kreisklasse. Aber aus diesem Stilmittel bezieht der Roman auch seine polemische Wucht und seine Anhängerschaft. Der ehemalige US-Zentralbankvorsitzende Alan Greenspan soll über Ayn Rand gesagt haben: „Ich verdanke ihr die Einsicht, dass der Kapitalismus nicht nur effizient und praktisch ist, sondern auch moralisch.“ Science-Fiction-Autor William Gibson hingegen hält Ayn Rands Einfluss für einen „der schlimmsten in der gesamten Menschheitsgeschichte“.

Ayn Rand: „Atlas Shrugged“. Centennial, 1200 Seiten, 36,99 Euro (E-Book: 6,49 Euro); deutsch: „Der Streik“, Kai M. John, 39,90 Euro

(anwe)