Phantombild aus Spucke

Schon heute können Genetiker aus DNA-Spuren am Tatort auf Augenfarbe, Hauttyp oder Haarton des Verbrechers schließen. Demnächst lässt sich anhand des Erbguts vielleicht ein komplettes Täterporträt erstellen.

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Von
  • Susanne Donner

Dieser Text ist der aktuellen Ausgabe 08/2009 von Technologie Review entnommen. Das Heft kann, genauso wie ältere Ausgaben, hier online portokostenfrei bestellt werden.

Schon heute können Genetiker aus DNA-Spuren am Tatort auf Augenfarbe, Hauttyp oder Haarton des Verbrechers schließen. Demnächst lässt sich anhand des Erbguts vielleicht ein komplettes Täterporträt erstellen.

"Das ist ein Fall, den wir heute anders lösen könnten", mutmaßt Peter Schneider. Der Fall, den der Rechtsmediziner vom Universitätsklinikum Köln meint, ist grausam. 2005 und 2006 wurden in Dresden eine Neun- und eine Zwölfjährige auf offener Straße entführt, verschleppt und im Wald vergewaltigt. Anschließend setzte der Täter die Kinder aus und überließ sie ihrem Schicksal. Das jüngere Mädchen war so schwer verletzt, dass es operiert werden musste. Fassungslos reagierten die Dresdner auf die Verbrechen. Eltern sorgten sich um ihre Sprösslinge, die Kriminalpolizei rief eine Sonderermittlungskommission ein.

Anhand der Spermareste gelang es, entscheidende Teile des Erbguts des Täters zu entschlüsseln, eine individuell charakteristische Abfolge der Nukleobasen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin. Doch die Spur passte zu keinem Eintrag in der DNA-Datenbank des Bundeskriminalamtes, die mehr als 700000 Datensätze umfasst. Daraufhin veranlasste die Polizei ein Massen-Screening. 130000 Männer zwischen 25 und 45 Jahren sollten eine Speichelprobe abgeben. "Die Kosten dafür gehen in die Millionen", kommentiert Schneider. Damals, vor zwei Jahren, hatten die Ermittler jedoch kaum eine andere Wahl.

Inzwischen verfügen Forscher über Werkzeuge, mit denen sich die Fahndung einengen und Kosten sparen ließen. "Wir können das Aussehen eines Verbrechers mithilfe des Erbguts eingrenzen", sagt Mark Shriver, Genetiker von der Pennsylvania State University in Philadelphia. Die Farbe von Haut, Haar und Augen lässt sich heute aus den Genen ablesen. Noch vor wenigen Jahren hielten Experten das für eine Science-Fiction-Vision, nicht ahnend, dass sich die Analysetechnik so rasch entwickeln würde.

Das Frappierende: Man muss das Erbgut nicht zur Gänze kennen, um Äußerlichkeiten daraus abzuleiten. Winzige Inseln aus punktuell vertauschten Buchstaben im genetischen Code genügen als Datenbasis. Auf diese "Single Nucleotide Polymorphisms", kurz: Snips, stützen sich alle Aussagen über das Aussehen aus dem Erbgut. Forscher sprechen lapidar von "Markern" (abgeleitet vom englischen Wort "to mark" für kennzeichnen), weil die verräterischen Buchstabendreher ihnen als Kennzeichen dienen. So offenbaren Snips der drei Gene SLC24A4, MATP und KITLG, ob wir kaffeebraun oder hellhäutig zur Welt gekommen sind. Sie sind die wichtigsten Erbmerkmale für die Hautfarbe. "Ich kann daraus auch in einem gewissen Umfang ableiten, ob Sie viele Muttermale haben", sagt Shriver.

Im Laufe der Evolution des Menschen haben sich die Hautfarben-Gene fortwährend verändert. Sie reagieren außerordentlich wandlungsfähig auf Umwelteinflüsse, vor allem auf Sonnenlicht. Nordeuropäer erblassten, damit ihre Zellen genug Sonne abbekommen, um Vitamin D zu produzieren. Das Vitamin sorgt für gesunde Knochen. Afrikaner blieben dunkelhäutig, damit sie vor der starken ultravioletten Strahlung nahe dem Äquator geschützt sind und keinen Hautkrebs entwickeln. Während sich die Erbinformationen für die Haut schnell anpassten, änderte sich der übrige genetische Code kaum. "Die Menschen sind nur oberflächlich, von ihrer Hautfarbe her sehr verschieden", schließt Shriver. "Innerlich gleichen sie einander vollkommen."

Etwa die Hälfte der Gene für den Teint sind inzwischen bekannt. Um Struktur und Farbe der Haut präziser zu prognostizieren, bedarf es jedoch weiterer Studien. Wichtig sind auch jene Erbinformationen, die festlegen, wie rasch ein Mensch braun wird. "Ein Ostasiate und ein Westeuropäer können die gleiche Hautfarbe haben. Aber Asiaten werden in der Regel in der Sonne wesentlich dunkler", erläutert Shriver das Problem. Um ein genaueres Porträt aus dem Erbgut zu zeichnen, hat sich der Forscher auf die Suche nach Markern für die Bräunungsreaktion gemacht. Mit einem Sonnensimulator bestrahlt er die Haut von Freiwilligen und misst, wie sie sich nach einem Tag und nach einer Woche verfärbt. Parallel dazu fahndet er nach Snips im genetischen Code, die seine Beobachtungen erklären. Noch tappt der Forscher im Dunklen. Ausgerechnet die Gene, die den Ton der Haut festlegen, verraten nichts über deren Verhalten in der Sonne. Nur das Rothaar-Gen MC1R signalisiert zugleich hartnäckige Blässe. Ein Umstand, den die Erfahrung bestätigt: Rothaarige ziehen sich ungewöhnlich schnell einen Sonnenbrand zu, ohne braun zu werden.

Die Hautgene könnten Forensikern künftig noch weitere Informationen liefern: Aus diesen Erbmerkmalen lässt sich häufig auch auf die Couleur der Haare schließen. Bei rotem Haar glückt die Vorhersage schon in mindestens neun von zehn Fällen. Bei Braun und Schwarz liegen die Forscher indes nur bei etwas mehr als jedem zweiten richtig. Mit blonden Mähnen tun sie sich noch schwerer. Manfred Kayser, Genetiker am Erasmus Medical Center in Rotterdam, prüft derzeit erstmals in einer groß angelegten Studie, wie zuverlässig sich die Färbung des Schopfes aus allen inzwischen bekannten Haarfarben-Snips zusammengenommen ableiten lässt. Auf diese Weise hofft er, die Prognosegenauigkeit in den kommenden Monaten entscheidend zu verbessern.

Einen Erfolg bei der Genanalyse hat der Forscher bereits zu verzeichnen: Mithilfe von drei Snips in den Genen HERC2 und OCA2 kann er aus einem Tropfen Blut ermitteln, ob der Spender aus einer blauen oder braunen Iris in die Welt blickt. In mehr als neun von zehn Fällen trifft Kaysers Einschätzung zu. Die einzige Ausnahme: Bei grünen und grauen Augen muss er meist passen. Sie stellen Mischformen von braunen und blauen Iristypen dar und besitzen daher ein besonders komplexes, schwer erforschbares genetisches Muster.

Außer mit der Farbe von Haut, Haaren und Augen beschäftigen sich Genetiker neuerdings auch mit ausgefalleneren Äußerlichkeiten. Zu den Vorreitern gehört ein Wissenschaftlerteam um Akihiro Fujimoto von der Universität Tokio. Im vergangenen Jahr entdeckte es unter 170 Genen eines namens EDAR, das Auskunft über die Dicke des Haares bei Asiaten gibt. Fujimoto hatte je fünf Haare von 121 Indonesiern und 65 Thailändern unter dem Mikroskop vermessen und die Resultate mit einem Snip des EDAR-Gens in Beziehung gesetzt, wie er im Fachblatt "Human Molecular Genetics" beschrieb. Das Erbmerkmal erklärte zu einem wesentlichen Teil die individuelle Dicke des Haars.

Elektrisiert von dem Fund des japanischen Kollegen nimmt Mark Shriver nun ebenfalls das menschliche Haar ins Visier. Er will die Struktur, ob lockig, wellig oder glatt, einem Abschnitt des Erbguts zuordnen. Das EDAR-Gen sei dafür ein wichtiger Kandidat, lässt Shriver durchblicken. Noch steht er jedoch ganz am Anfang seiner Untersuchungen.

Weiter ist er dagegen mit einem anderen Projekt zur forensischen Genetik: Shriver hat die Gesichter von 3500 Menschen dreidimensional kartiert, indem er Nase, Kinn, Stirn, Ohransatz und andere markante Punkte vermaß. "Eine Reihe von Distanzen im Gesicht wird von den Genen bestimmt, etwa die Krümmung und die Länge der Nase", glaubt er. Für zwei Gene aus der Familie der Fibroblasten-Wachstumsfaktoren FGF konnte er seine Theorie bereits untermauern. Sie beeinflussen offenbar Länge und Breite des Gesichts. "Die ersten Ergebnisse liefern schlüssiges Beweismaterial für unsere Hypothese", freut sich der Forscher.

Wäre es eines Tages möglich, die Gesichtskontur aus dem Erbgut abzulesen, ließe sich tatsächlich ein Phantombild erstellen, mit Angaben zur wahrscheinlichen Augenfarbe, Haarfarbe, Haar- beschaffenheit und Kopfform. Eine enorme Hilfe bei Polizeiermittlungen, die angesichts des galoppierenden Fortschritts nicht mehr abwegig erscheint. Shriver zumindest vermutet, in fünf bis zehn Jahren aus den Blutspuren von Vergewaltigern und Mördern auf die Gesichtszüge der Täter schließen zu können.

Und fest steht: Schon heute ließe sich das Aussehen des Dresdner Verbrechers eingrenzen. Seine Erbinformationen würden verraten, dass er höchstwahrscheinlich braune Augen hat und vermutlich – da wären die Forscher zögerlicher – braun- oder schwarzhaarig ist. Sie würden ihn als tendenziell hellhäutig beschreiben. Zumindest könnten sie eine schwarze Hautfarbe mit großer Sicherheit ausschließen. Solche Angaben würden die Verbrecherjagd erleichtern.

Es wäre allerdings auch denkbar, dass der Täter den Ermittlern entwischt, weil sie sich zu früh auf den wahrscheinlichsten Fall versteifen. Denn das Phantombild aus dem Genom beruht – im Unterschied zu jedem Foto – auf Wahrscheinlichkeiten. Dass der Mann in Wirklichkeit blond und blauäugig ist, ist zwar sehr unwahrscheinlich, aber eben möglich.

Erschwerend kommt hinzu, dass es Kriminellen nicht verborgen bleiben wird, wenn ihr Genom ihre Gesichtszüge verrät. Ohne großen Aufwand könnten sie die Kommissare während der Fahndung an der Nase herumführen: Gefärbte Kontaktlinsen kaschieren die echte Augenfarbe, das Haar lässt sich tönen oder mit einer Perücke verhüllen und die Haut mit Make-up überdecken, sodass das Erscheinungsbild des Täters am Ende nicht mehr ins DNA-Raster passt. Die eigentliche Absicht, den Verbrecher mit dem Gentest schneller zu fassen, könnte ad absurdum geführt werden. Ein Problem, das umso größer sein dürfte, je weniger äußere Merkmale das Erbgut den Ermittlern preisgibt.

Die größte Gefahr eines Phantombildes aus dem Genom sieht Bioethikexperte Amade M'Charek von der Universität Amsterdam allerdings darin, dass die Polizei vorschnell ihre Fahndung fokussieren und den Täter in einer speziellen ethnischen Gruppe suchen könnte. Dabei ist es nicht der Gentest selbst, der Risiken birgt, sondern die Interpretation des Ergebnisses. Was ist das für ein Mensch, der wahrscheinlich schwarze Haare trägt, einen goldbraunen Teint hat und europäischer Herkunft ist? Ein Türke? Ein Italiener? Vielleicht. Dass die Beschreibung auf etliche deutschstämmige Bürger genauso zutrifft, könnte darüber vergessen werden. Das Risiko wüchse, dass vorschnell Ausländer ins Visier der Fahnder gerieten und eine Treibjagd gegen sie begönne. Der ideale Nährboden für Ausländerfeindlichkeit und Rassismus.

"Es könnte sein, dass sich eine Art Sündenbocksyndrom entwickelt und eine einzelne Gruppe ähnlich aussehender Menschen unter Generalverdacht gestellt wird", räumt der Rechtsmediziner Peter Schneider ein. Die möglichen Folgen einer solchen Verunglimpfung lässt ein Fall aus Belgien erahnen: Nach dem Mord an einem Siebzehnjährigen in Brüssel wurden zwei Marokkaner, die Polizeibeamte auf einem schlecht aufgelösten Überwachungsvideo zu sehen glaubten, der Tat verdächtigt. Rechte Politiker schlachteten den Verdacht für ihre ausländerfeindlichen Parolen aus. Konservative Kreise machten ein Integrationsdefizit unter Immigranten aus. Obwohl sich die Eltern des Opfers öffentlich dagegen wehrten, den Mord zur Meinungsmache gegen Araber zu nutzen, heizte sich die Stimmung in der Bevölkerung immer weiter auf – bis sich herausstellte, dass es sich bei den beiden Jugendlichen auf dem Film um Polen handelte. Für Amade M'Charek ist das ein Paradebeispiel dafür, wie sich Fakten und Vorstellungen auf gefährliche Weise ver- mischen können, um am Ende soziale Konflikte zu verschärfen oder gar Unruhen zu entfachen.

Andererseits bietet das Erbgut auch die Chance, Vorurteile auszuräumen. "Die Genetik ist unparteiisch und unbestechlich", sagt Schreiber. Die Ergebnisse der Tests können vorgefertigte Meinungen und Klischees durchaus widerlegen. In Holland vermutete man beispielsweise lange Zeit hinter einem Mord an einem 16-jährigen Mädchen einen Bewohner eines nahe gelegenen Asylantenheimes. Als Experten Jahre nach dem Verbrechen die DNA des Täters auf seine Herkunft untersuchten, wies das Resultat hingegen auf einen Nordeuropäer hin. Auch Mark Shriver konnte unlängst lateinamerikanische US-Einwanderer, die des Mordes bezichtigt wurden, entlasten, weil das Genom von einem Europäer zu stammen scheint. In beiden Fällen beruhigte sich die aufgebrachte Bevölkerung nach den Erbgutanalysen.

Die Gentests könnten noch einen weiteren Nutzen haben: Anhand des genbasierten Phantombildes lassen sich Zeugenaussagen künftig vielleicht überprüfen. Schilderungen von Augenzeugen sind nämlich oft falsch, wie Untersuchungen zeigen. Auf ganz natürliche Weise überlagern sich Erinnerungen an die Tat im Gehirn mit anderen Eindrücken. Ohne böse Absicht dichten Zeugen einem Verdächtigen daher manchmal eine falsche Frisur an oder irren sich in der Augenfarbe. 90 Prozent aller Justizirrtümer gehen laut einer US-Studie auf falsche Identifizierungen zurück.

Kritiker fürchten zwar einen massiven Eingriff in die Privatsphäre, wenn Phantombilder auf Basis des Erbgutes erstellt werden: Hautkrankheiten oder Augenleiden, die der Betroffene zu kaschieren versucht, könnten offengelegt werden. Ein Gentest würde womöglich offenbaren, ob sich ein dunkelhäutiger Mann die Haut gebleicht hat – Intimitäten, die nicht jeder gern preisgibt. Die Forscher betrachten das jedoch als Ausnahmen und vertreten unisono den Standpunkt, auf dem auch der Genetiker Manfred Kayser steht: "Solange es sich um äußerlich sichtbare Merkmale handelt, erfahren wir aus den Gentests nichts anderes als das, was mit bloßem Auge sowieso zu erkennen ist." Diese Argumentation führte 2003 zum holländischen DNA-Gesetz, das erlaubt, bei schweren Straftaten das Erbgut auf äußere Merkmale wie Geschlecht, Haarfarbe, Ethnie, Hauttyp und Gesichtsform zu durchforsten – es ist der seltene Fall eines Gesetzes, das dem wissenschaftlichen Fortschritt vorauseilt. Denn vor sechs Jahren fehlten für verlässliche Genanalysen noch die Methoden, und bis heute lässt sich die Gesichtsform nicht vorhersagen.

Ohnehin nutzt die Polizei die neuen Techniken bislang nur in Ausnahmefällen: In Großbritannien prüft der Forensic Science Service auf rote Haare. In den Niederlanden zieht die Justiz den Test ebenfalls vereinzelt zu Rate, und dort wie auch in den USA wird bei schweren Verbrechen die geografische Herkunft des Täters genetisch ermittelt. Anhand von dreißig bis vierzig Snips lässt sich mit über 90-prozentiger Zuverlässigkeit sagen, ob der Gesuchte asiatischer, europäischer oder afrikanischer Abstammung ist.

In Deutschland sind Analysen zur Vorhersage von Aussehen und Herkunft verboten – eine Konsequenz der perversen Rassenlehre im Dritten Reich. Kapitalverbrechen werden daher meist mit althergebrachten Methoden aufgeklärt. Auch der Kinderschänder von Dresden konnte mit klassischer Ermittlungstaktik gefasst werden, nach fast drei Jahren Fahndung und 14200 Speichelanalysen. Die Zeugenbeschreibungen brachten die Polizei auf die Spur des Täters. Nachdem das Auto des 33-Jährigen bei einem Verkehrsdelikt aufgefallen war, baten Kriminalbeamte den Mann um eine Speichelprobe. Diese stimmte mit der DNA aus dem Sperma überein. Der LkW-Fahrer gestand und wurde zu elf Jahren Haft und 20000 Euro Schmerzensgeld verurteilt.

Angesichts des Fortschritts in der Wissenschaft wünscht sich der Rechtsmediziner Peter Schneider aber auch hierzulande "den Beginn einer qualifizierten Diskussion" über den Einsatz der neuen genetischen Ermittlungswerkzeuge. Er spekuliert dabei auf Argumentationshilfe aus dem Ausland: Mit Sicherheit, so glaubt er, werde eines Tages irgendwo auf der Welt, vielleicht in Holland, ein spektakulärer Kriminalfall anhand eines Phantombildes aus dem Genom aufgeklärt. Das sei nur eine Frage der Zeit. (bsc)