Die simulierte Gesellschaft

Forscher bilden neuerdings ganze Volkswirtschaften und Bankenimperien im Computer ab. Ihre Szenarien legen nahe: Eine neue Bankenkrise droht.

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Die simulierte Gesellschaft

(Bild: Fotolia)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Susanne Donner
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Jahrzehnte galt der Mensch in den Wirtschaftswissenschaften als berechenbares Wesen. Er überblickte den Markt und tat alles, um möglichst viel Geld einzustreichen. Als Homo oeconomicus wurde dieses Ausbund an geldorientierter Geradlinigkeit weltberühmt. In Wirklichkeit verhalten sich Menschen jedoch oft anders: Sie schlagen das Spitzengehalt aus, weil ihnen die Arbeit zu stressig ist.

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Sie machen den Job ein paar Monate, ehe sie sich frisch verlieben und in eine andere Stadt ziehen. Ein relativ neuer Ansatz in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften trägt diesem komplexen Verhalten Rechnung. Das Instrument heißt "agentenbasierte Modellierung und Simulation", kurz: ABMS.

"Sie holt ganze Firmen, Branchen oder sogar Volkswirtschaften in den Rechner", erklärt der Ökonom Herbert Dawid von der Uni Bielefeld. "Die Gesellschaft kommt ins virtuelle Forschungslabor." Maschinell ermittelte Zukunftsszenarien sind das Ergebnis. Wie viel Land die Menschheit künftig braucht und wann es zu einem Bankencrash kommt, fragen Forscher mittlerweile den Computer.

In der virtuellen Welt heißen Menschen, Firmen und Banken allesamt "Agenten". Ihre Zahl geht in die Tausende und ist letztlich nur durch die Rechenleistung begrenzt. Auf Großrechnern können Millionen Agenten miteinander Geschäfte machen. Dabei verhalten sie sich aber nicht uniform. Der eine etwa gibt fünf Prozent seines Einkommens pro Monat aus, der andere zehn. Der eine muss eine Hypothek auf ein Auto abbezahlen, der andere hat Zusatzeinnahmen aus Aktien.

Indem die Forscher ihre Modelle mit realen Daten füttern, etwa der Verteilung von Einkommen und Sparerquoten in Deutschland, rücken sie das Profil der Agenten nah an die Wirklichkeit heran. Die realen Daten beziehen sie vom Statistischen Bundesamt, aus Brancheninformationen der Banken oder aus Umfragen.

Das Verhalten der Agenten aber variieren die Forscher in Tausenden Rechendurchläufen. Einige Personen machen beispielsweise einfach, was ihre Nachbarn machen, zeigen also soziale Lernfähigkeit. Auch völlig willkürliches Verhalten kann einem Teil der Agenten einprogrammiert werden. Dann folgen ihre Handlungen einem zufälligen Muster. Das kann sich im Berechnungszeitraum auch ändern: Zunächst spart eine Person beispielsweise zehn Prozent ihres Einkommens, dann aber zusehends weniger, weil sie schon ausreichend Geld zurückgelegt hat. "Wie bei der Wettersimulation lassen wir die Wirtschaftssimulation nicht einmal, sondern tausendmal durchlaufen. Dann sehen wir, ob ein anderes Verhalten der Agenten etwas am Ergebnis dreht, also wie robust es ist", erläutert Dawid.

Die Europäische Zentralbank (EZB) erteilte einen der jüngsten Großforschungsaufträge. Dawids Mitarbeiter Sander van der Hoog soll den gesamten europäischen Immobilienmarkt modellieren und der Zentralbank die Gretchenfrage beantworten: Was passiert morgen?

Van der Hoog speiste die Daten von 50000 Haushalten der EU ein – unter anderem Einkommen, Hypotheken, Beschäftigungsstatus und Wohnsituation. Er berücksichtigte auch nationale Besonderheiten, etwa dass die meisten Menschen in Deutschland zunächst zur Miete wohnen, bis ein bestimmtes Sparniveau erreicht ist. Dann denken viele an einen Hauskauf oder an den Bau eines Eigenheims, nicht zuletzt zur Alterssicherung. Aber auch hier unterschieden sich van der Hoogs Agenten. Einige wollen ein Haus, um darin zu wohnen, andere, um es zu vermieten, und wieder andere, um es später zu verkaufen.

Schließlich drückte van der Hoog den Startknopf der Prototyp-Version seines Modells und schaute zu, wie sich der Immobilienmarkt entwickelte. Jedes Jahr versuchte ein kleiner Anteil der Haushalte ein Haus zu erstehen. Je nach Erspartem und dem von den Banken geforderten Eigenanteil, den van der Hoog auch variieren konnte, bekamen sie einen Kredit oder nicht. Das Häuschen kam. Oder eben nicht.

Dann erzeugte van der Hoog nach einem Kaufboom eine virtuelle Immobilienkrise. Ein Teil der Eigenheimbesitzer konnte den Kredit nicht mehr abbezahlen. Der Gewinn der Banken schrumpfte. "Man sieht in der Simulation, dass es gar nicht viel braucht, damit sich so ein Problem hochschaukelt und einige Geldinstitute Schwierigkeiten bekommen", sagt van der Hoog. "Das liegt auch daran, dass 50 Prozent der Gesamtschulden in der EU Hypotheken für Immobilien sind."

Eigentlich sollen die neuen Regeln der Bankenregulierung eine Immobilienkrise, wie sie 2005 von den USA ausging, unwahrscheinlicher machen. Van der Hoog sieht in seinem Modell jedoch, dass sie nicht unbedingt greifen. Zwar sollen die Banken Kapitalrücklagen bilden. Aber in guten Wirtschaftszeiten sind die Beträge niedrig, weil auch das Ausfallrisiko als gering bewertet wird. Kriselt es plötzlich, müssen die Banken mit ihren geringen Rücklagen aus guten Zeiten klarkommen. Derzeit liegt die Rücklage bei acht Prozent Eigenkapital bezogen auf riskante Geldanlagen. "Das funktioniert nicht gut", urteilt van der Hoog.

Aus der Europäischen Zentralbank heißt es, dass man das Modell für eine treffende Beschreibung der Wirklichkeit halte. Obwohl es sich noch um einen Prototyp handele, lasse sich bereits erkennen, dass vor allem eine strengere Verleihpolitik der Banken Krisen und Blasen verhindern könne, sagt Marco Gross, Ökonom in der Simulationsabteilung der EZB. Bereits 2017 wurde bekannt, dass die Kreditvergabe künftig strenger geregelt werden soll. Die EZB- und die EU-Bankenaufsicht wollen bis Ende 2018 entsprechende Regeln veröffentlichen. Im Gespräch sind: geringere Kreditvolumina, höhere Eigenanteile der Kreditnehmer und höhere monatliche Rückzahlungen.

Platzt dann für viele der Traum vom Eigenheim? "Sie werden andere, billigere Häuser erwerben", meint van der Hoog. "Oder sie werden gar nicht mehr Eigentümer: In Norwegen ziehen viele in eine Bleibe und zahlen die Raten an die Bank, ohne das Haus je komplett abzubezahlen."

Und nicht immer sind die Ergebnisse leichte Kost, weil sie nicht jedem gefallen. Kritiker feinden dann gern die Methode an: Der Nachhaltigkeitsforscher Will McDowall vom UCL Energy Institute in London etwa moniert, dass die Modellierer immer vereinfachen müssen und dadurch Details verloren gehen. Letztlich seien es deshalb fragwürdige Erkenntnisse aus künstlichen Welten. Van der Hoog hält dagegen: "Ähnlich den Wetterprognosen funktionieren sie sehr gut, wenn man das Verhalten der Agenten variiert und Tausende Durchläufe macht."

Vor Kurzem packte Herbert Dawid die gesamte griechische Volkswirtschaft wie auch die übrigen EU-Länder in ein Computermodell. Für jedes Land bildete er Haushalte ab – in Summe 5000, dazu Schlüsselunternehmen und Banken. Er spielte durch, was passieren würde, wenn die EU-Staaten die 330 Milliarden Euro Schulden Griechenlands übernähmen. Das Ergebnis: Die Steuern stiegen in den Nationen, die das Loch in der Staatskasse zu stopfen versuchten. Etliche Menschen würden weniger kaufen, Unternehmen vielleicht an Gewinn einbüßen.

Egal wie sich Haushalte und Unternehmen verhielten: Dawid sah, dass die Schuldenübernahme die Wirtschaftslage der EU kaum änderte. Gleichzeitig verbesserte sich auch wenig in Griechenland. Ließ er die Griechen mit ihrem Problem allein, konnte das Land sich ebenfalls nicht wirklich berappeln. Nur lang anhaltende finanzielle Förderungen für verschiedene Branchen halfen Griechenland. Also: kein Schuldenschnitt, dafür aber jahrzehntelange Hilfe.

Auf die Frage, ob Politiker sich für diese Einsicht aus dem Rechner interessieren, muss Dawid allerdings passen: Die Minister und Abgeordneten hat er mit der Zukunft Griechenlands noch nicht konfrontiert.

(bsc)