Leben ohne Schwerkraft

Scott Kelly war 340 Tage am Stück auf der ISS – so lange wie kein Amerikaner zuvor. Nun schildert er in "Endurance" anschaulich und witzig seine Erlebnisse an Bord.

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Nach einem Jahr im All sitzt Scott Kelly endlich wieder bei seiner Familie am Tisch. Doch es fällt ihm schwer, sich an die Schwerkraft zu gewöhnen. Seine Fußgelenke sind so geschwollen, dass er seine eigenen Knöchel nicht mehr ertasten kann. Und jedes Mal, wenn er sein Glas absetzt, hält er Ausschau nach einem Stück Klettband, das es am Platz hält.

Scott Kelly, 54, war mit vier Missionen insgesamt 520 Tage im All – davon zuletzt 340 Tage am Stück. Damit ist er US-Rekordhalter. Seine Erlebnisse hat er nun in einem Buch zusammengefasst, das im Herbst in deutscher Übersetzung erscheint.

Welche gesundheitlichen Folgen genau die Zeit auf der ISS hatte, darüber ist leider nicht viel zu erfahren – die Untersuchungen laufen noch. Trotzdem ist das Buch höchst lesenswert. Dramatischer Höhepunkt ist ein Außeneinsatz, bei dem Scott nur mit Mühe zurück in die Luftschleuse findet. Aber genauso interessant sind die vielen kleinen Rituale des Alltags, die Scott anschaulich und detailreich beschreibt.

Jeden Freitagabend etwa trifft sich die gesamte Besatzung zu einem gemeinsamen „Festmahl“ im russischen Modul. Der Leser erfährt nicht nur, was es zu essen gibt, sondern auch, dass Russisch sowohl für Flüche als auch für Freundschaften ein weitaus komplexeres Vokabular hat als Englisch.

Solch entspannte Momente sind allerdings selten. Die Arbeitszeit ist bei der Nasa in Fünf-Minuten-Blöcke unterteilt. Und selbst beim Schlaf lässt der Weltraum keine Ruhe: Die kosmische Strahlung erzeugt auch bei geschlossenen Augen Lichtblitze auf der Retina. Vom Lärm der Lüfter lenken sich die Menschen an Bord gern mit Aufnahmen von Vogelgezwitscher oder plätscherndem Wasser ab, ein Kosmonaut sogar mit dem Summen von Moskitos. „Ich finde, das geht etwas zu weit“, kommentiert Scott trocken.

In einem ständigen Clinch liegt Scott mit dem Kohlendioxid. Die Grenzwerte auf der ISS sind dreimal so hoch wie auf U-Booten der Navy. Die Folgen sind Kopfschmerzen, Verstopfung und Reizbarkeit. Doch die Aufbereitungsanlagen sind „zickige Biester“, die regelmäßig ausfallen. Sie zu zerlegen, ist eine tagesfüllende Angelegenheit – zumal Einzelteile gern auf Nimmerwiedersehen davonschweben, wenn sie nicht sofort mit Klebe- oder Klettbändern fixiert werden. Die Rekordzeit, die ein Ausrüstungsgegenstand verschwunden blieb, liegt bei acht Jahren.

Scott gibt auch reichlich Einblick in sein Gefühlsleben – über die Trennung von seiner Familie oder über die euphorischen Momente während eines Außeneinsatzes, an denen er sich fühlte wie Leonardo DiCaprio am Bug der „Titanic“: als König der Welt. Zudem zieht er immer wieder pointierte Vergleiche: In der Schwerelosigkeit einen Koffer zu packen sei so, als sei er an der Decke festgeschraubt. Und jemandem aus einem Raumanzug zu helfen sei wie ein Pferd zur Welt zu bringen.

Scott Kelly: „Endurance. Mein Jahr im Weltall“, C. Bertelsmann Verlag, 488 Seiten, 25 Euro (E-Book 19,99 Euro), erscheint voraussichtlich 15.10.2018

(anwe)