Drei Zentimeter Stahldraht

Sie hält nicht einfach nur Blätter zusammen, sondern Epochen: Die Büroklammer, von Digitalisierungsmonomanen schon ins Alteisen der Geschichte appliziert, denkt gar nicht daran, aufzuhören.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Peter Glaser

Es ist unvorsichtig, zu glauben, dass der digitale Wandel eine geradlinig oder exponentiell verlaufende Fortschrittslinie darstellt. Man kann sich da ziemlich vertun. Manche meinen, die Digitalisierung sei nun ein fortwährender Abschied vom Analogen – Abschied von magnetbeschichteten Medien, Abschied vom Analogfernsehen und -Radio, Abschied vom Fotoapparat, dem Telefonbuch und Abschied vom Abschied, denn inzwischen wählt sich keiner mehr mit seinem Modem ins Internet ein, alles ist immer und wir sind einfach online.

Aber da sind zum Beispiel diese hartnäckigen Vinylplatten. Man hatte sie bereits vor 20 Jahren in einem Naturschutzgebiet gewähnt, am Aussterben und umsorgt von den letzten Audiophilen mit ihren Referenzplattenspielern, vor deren Inbetriebnahme erst einmal bei der nächsten Erdbebenwarte angerufen wurde, um die seismische Ruhe beim Abspielen sicherzustellen. Nachfolgeträgermedien wie CD und DVD machten sich bereits auch auf dem Weg in die Irrelevanz, als sich herauskristallisierte, dass die vielen DJs dieser Welt ohne Vinyl auf ihren Turntables ihres wichtigsten Instruments beraubt wären. Jeder Musiker, der auf sich hält, läßt inzwischen eine Teilauflage seiner jüngsten. Schöpfungen auf Vinyl pressen, Tendenz zunehmend.

Was mich neuerlich hat aufhorchen lassen, ist die Lage auf dem Büroklammernsektor. Die Büroklammer gehört, zusammen mit den Schreib-, Kopier- und Druckerpapieren, schon lange zu den zentralen Kandidaten der Desintegration durch das papierlose Büro. Was wir stattdessen haben, sind das bürolose Papier – längst ist es nicht mehr nur in den klassischen Arbeitsarealen kaserniert, es ist überall – und immer mehr Büroklammern. Auch hierbei mochte mancher schon angenommen haben, dass die Virtualisierung bereits vollzogen sei – berühmt-berüchtigt: Clippy alias Karl Klammer, der nervtötende Büroklammer-Avatar in Microsoft Office, den am Ende nicht einmal mehr die Leute mochten, die ihn geschaffen hatten. Clippy verschwand, aber auch er erlebte unerwartete Neuauflagen – 2011 in Form eines Spiels (Ribbon Hero 2 – Clippy's Second Chance), das nur so troff vor Ironie, und 2017 als Add-on für Google Chrome (Der Microsoft-Depp ist zurück!).

Die reale Büroklammer aus rostfreiem Stahl, die in ihrer heutigen Form auf einen Entwurf des österreichischen Fabrikanten Heinrich Sachs aus dem Jahr 1919 zurückgeht, scheint ein ameisenartiger Überrest der analogen Ära zu sein, ein Artefakt des Bürobedarfs, neben Heftsteifen, Lochern und Radiergummis. Aber die Büroklammer klammert sich auch an die zunehmend digitale Welt. In den zurückliegenden fünf Jahren ist der Aktienkurs von ACCO, dem bedeutendsten amerikanischen Hersteller von Büroklammern, ständig nach oben gegangen. Bereits 2011 verbrauchten Amerikaner 11 Milliarden Büroklammern, das sind rund 35 Stück für jeden lebenden US-Bürger. Das ist nicht sehr digital und auch nicht disruptiv, aber Büroklammern sind richtig gut darin, das zu tun, wozu sie da sind (und auch das, wozu sie eigentlich nicht da sind, wie sich Besitzer früher Apple Macintosh-Modelle erinnern werden, wenn eine Diskette sich nicht mehr auswerfen ließ, oder später am PC eine CD klemmte).

Wer die Büroklammer erfunden hat, ist ungewiss. Einen Beitrag dazu lieferte der Norweger Johan Vaaler, dem im November 1899 ein deutsches Patent für seine Version der Papierklammer zugesprochen wurde (eine Notlösung, da es in Norwegen zu dieser Zeit noch kein eigenes Patentrecht gab). Für eine Maschine zur industriellen Fertigung von Büroklammern erhielt im selben Jahr William Middlebrook aus Waterbury im US-Bundesstaat Connecticut ein Patent. Seither klammert die Klammer unermüdlich und weigert sich, wie auch das zugehörige Schreibpapier, in den Schatten der Geschichte zu treten.

2005 begann der kanadische Blogger Kyle MacDonald eine Reihe von Tauschgeschäften, die mit einer einfachen, roten Büroklammer begannen und nach 14 Schritten ein Jahr später damit endeten, dass er ein Haus bekam. Im 2. Weltkrieg hefteten sich während der deutschen Besatzung die widerständigen Norweger Büroklammern erst an, dann unter die Krägen, um ihren Oppositionsgeist zu zeigen. 1989 wurde auf dem Gelände einer Privatuniversität bei Oslo ein knapp sieben Meter großes Büroklammer-Monument errichtet, das an Johan Vaaler erinnern sollte, allerdings den in England produzierten klassischen Paperclip der Gem Manufacturing Company darstellt. 1999 gipfelte die Vermutung, die Büroklammer sei in Norwegen erfunden worden, in einer Gedächtnisbriefmarke.

Nach der Niederlage Nazideutschlands starteten die USA 1945 ein militärisches Geheimprojekt namens Operation Overcast ("Operation bewölkt"), um deutsche Raketenwissenschaftler und Techniker zu rekrutieren und sich deren Knowhow und Wissen für den heraufdämmernden Kalten Krieg zu sichern. Unter dem Codenamen Operation Paperclip ("Operation Büroklammer") fand daraufhin die Verlegung deutscher ziviler und Kriegsgefangener Wissenschaftler in die Vereinigten Staaten statt. Kriegsverbrecher sollten zurückgeschickt werden, aber was folgte, waren äußerst lockere Regelungen, um beispielsweise die NSDAP-und SS-Mitgliedschaft Wernher von Brauns zu rechtfertigen. Mit einem Wort: die Büroklammer war an den Schnittpunkten der Geschichte des 20. Jahrhunderts präsent und sie denkt gar nicht daran, sich im 21. Jahrhundert zu verbiegen, nur um einer naiven Vorstellung von Digitalisierung das Feld zu überlassen. Von 100.000 Büroklammern werden weiterhin einer amerikanischen Studie zufolge statistisch gesehen 19.341 als Poker-Chips enden und weitere 14.163 bei Telefongesprächen zerstört werden.

Zugleich mit der Industrialisierung und der Massenproduktion entstand der Papierkram und die Versuche, ihn zu bändigen. "Diese beiden Dinge haben das Ökosystem des Büros erschaffen", sagt James Ward, Autor von "Adventures In Stationery" (Die Schreibwaren-Abenteuer). Wir alle glauben oder hoffen inzwischen, dass Computer uns dabei helfen, Dinge zu ordnen. Stets wie mit dem Lineal gezogen stehen akkurate Zeilen auf dem Bildschirm. Inzwischen ist die Technologie tatsächlich so weit fortgeschritten, dass sie uns nicht nur erlaubt, alte Unordnungen ohne Abstriche in die digitale Welt zu übernehmen, sondern sie noch weit zu übertreffen. Mit dem Internet hat der Mensch eine vollkommen neue Dimension des Durcheinanders erschaffen. Es ermöglicht uns nun, nicht mehr nur Zettel durcheinanderzuschmeißen, sondern Medien aller Art. In gordischen Knoten aus Hyperlinks ist nun die ganze Welt in die Globalisierung der Unaufgeräumtheit eingebunden. Und still und mit stählernem Glanz hält die Büroklammer weiterhin Wacht an den Rändern des ungreifbaren, leuchtenden Nichts.

(bsc)