Symbolische Sedimente

Die digitale Welt hat nun ein Ausmaß erreicht, in dem sie auch langfristigen Prozessen Raum bietet, die bisher dem Aufenthalt im Analogen vorbehalten waren.

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Von
  • Peter Glaser

Angefangen hatte es mit Britney Spears, die dieser Tage in Berlin auftrat. Neben einem Foto ihrer Show war angemerkt, dass das Konzert in der Mercedes-Benz-Arena stattgefunden habe. Mir war eine nach dem gleichnamigen Telefonkonzern benannte O2-Arena bekannt. Ich war verunsichert. Hatte, an mir vorbei, eine Arenisierung Berlins stattgefunden? In manchen Dingen bin ich wirklich schlecht informiert. Dies zu beheben haben wir glücklicherweise das Internet. Also Google Maps. Berlin. Und Suchanfrage "O2 Arena".

Als Ergebnis bekam ich die Mercedes-Benz-Arena angezeigt – ohne dass irgendwo ein Hinweis auf meinen Suchbegriff aufschien, an den der Google-Algorithmus sich hätte hängen können. Entweder hatte die Suchmaschine den Begriff "Arena" als gemeinsamen Leitstrahl genutzt, was wahrscheinlich ist. Oder "O2" wohnt in den Meta-Tags, was unwahrscheinlicher, aber interessanter ist – obwohl auch die Suche nach "O2" allein neuerlich zur Mercedes-Benz-Arena, Mercedes-Platz 1, vormals O2-Platz 1, führte.

Wikipedia weiß zum einen, dass die 2008 eröffneten Halle, die schon anfangs – vielleicht ein bißchen bockig – weithin als O2-Arena wurde, gar nicht so heißt, sondern bescheiden "O2 World" genannt werden wollte. Und dass zum anderen die Namensrechte im Jahr 2015 wieder abgegeben wurden – an Mercedes-Benz. Die neue Vereinbarung soll nun für 20 Jahre gelten, was wohl auch für die Stadt Berlin, die zahlreiche Straßenschilder austauschen musste, eine gute Nachricht war. Die O2-blaue Bestuhlung ließ der neue Sponsor in Anthrazitgrau neu beziehen, über Kosten ist nichts bekannt. Um die Verwirrung zu vergrößern, gibt es in Prag tatsächlich eine O2 Arena, die seit 2008 diesen Namen trägt und zuvor nach der größten Lotteriegesellschaft Tschechiens Sazka Arena hieß.

Aber ich schweife ab. "Weiter geht die Zeitreise durch 20 Jahre Spears'sche Popgeschichte", heißt es in einer Beschreibung des Konzertfortgangs – andernorts beginnt die Zeitreise gerade erst. Eigentlich interessant an der kleinen Arena-Beobachtung ist nämlich die neuartige Möglichkeit, dass sich an virtuellen Orten ebensolche Sedimente ablagern können. Wir haben eine Karte, die nach und nach neu gestaltet, übersichtlicher und detaillierter wird, ein herkömmlicher Entwicklungsvektor eines solchen Orientierungstools. Schon jetzt kann man einzelne Läden und Gebäude in Google Maps in Gestalt verketteter Panoramaaufnahmen betreten und sich darin umsehen. Mit den verschiedenen Namen, die ein Ort zu unterschiedlichen Zeiten getragen hat, kommt ein weiterer, historischer Vektor ins Spiel. Nicht mehr nur analoges Material kann sich ablagern zu geologischen Schichten. Nun beginnt sich das künftige Arbeitsgebiet einer virtuellen Stratigraphie zu bilden – an einem Punkt im Raum kontextabhängig "Arena" oder auch "World" und dem neu eingezogenen vertikalen Zeitpfeil folgend erst Telco- dann Automobil-firmierend.

In der klassischen Vorstellung einer Zeitreise bewegt sich ein Mensch durch die Zeit. Mit den Fortschritten der Computertechnik und der weltweiten Vernetzung entstehen gerade bemerkenswerte neue Möglichkeiten. Dabei muß niemand mehr die Unbequemlichkeit einer Fernreise auf sich nehmen – Vergangenheit und Zukunft kommen nun mit digitaler Hilfe zu uns. Für manche sind bereits die zahllosen alten Amateuraufnahmen aus dem Alltag vergangener Jahrzehnte, die sich auf Videoportalen sammeln, filmische Zeitmaschinen.

Aber auch künstliche Onlinewelten und Videospiele nehmen immer mehr an historischen Fakten und Visuals in ihr Spielgeschehen auf. In einer Timemap Berlin ließen sich eine Weile historische Karten der Stadt aus dem 19. und 20. Jahrhundert mit aktuellen überblenden und vergleichen. Auf der Website der Stabi Hamburg kann man immer noch durch Hamburg in historischen Karten zwischen 1590 und 1880 reisen. Bei Google werden seit Jahren historische Aufnahmen aus verschiedenen Quellen zusammengetragen und in Google Earth integriert. Dort kann man sich per Schieberegler in die Vergangenheit bewegen, um zu sehen, wie es früher an einem Ort ausgesehen hat – seien es die schrumpfenden Eisflächen in der Antarktis oder die Bauarbeiten des Olympiastadions in Peking.

Aus immer mehr solcher Teile und Vektoren setzt sich eine neuartige, digitale Zeitmaschine zusammen. Nathan Myhrvold etwa, vormals Entwicklungsleiter bei Microsoft, ist in seiner Freizeit Dinosaurierforscher. Seine Theorie, dass die gewaltigen Brontosaurier durch das Peitschenknallen ihrer langen Schwänze miteinander kommuniziert haben, ließ Myhrvold mit aufwendigen Computersimulationen überprüfen. Nun wissen wir also auch, wie sich der erste Überschallknall angehört hat, damals vor 150 Millionen Jahren.

(bsc)