Klassiker neu gelesen: Arm und Reich

Ist Europa reich und modern, weil die Europäer so genial und erfindungsreich sind? Darauf hatte Jared Diamond in "Arm und Reich" schon vor 20 Jahren eine Antwort.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 2 Min.
Von
  • Robert Thielicke

Vor 20 Jahren veröffentliche Jared Diamond sein Werk „Arm und Reich“. Es wurde mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, aber mit Blick auf die derzeitige Diskussion über Flüchtlinge sowie die Ursachen für Not und Überfluss muss man leider konstatieren: Es hat nicht genug Einfluss gewonnen.

Diamond, Professor für Geografie an der University of California, zeichnete eine völlig andere Menschheitsgeschichte, als die Populisten und Foren-Gelehrten es gern hätten. Nicht ihre angebliche Genialität und ihr Erfindungstalent hat die Menschen west-licher Kulturen zu den reichsten der heutigen Welt gemacht, sondern der Umstand, in einer Umgebung aufgewachsen zu sein, die diese Entwicklung begünstigte. „Es scheint plausibel anzunehmen, der Geschichtsverlauf sei Ausdruck angeborener Unter-schiede zwischen den Völkern“, schreibt Diamond. Der eigentliche Grund aber sei „die Verschiedenheiten der Umwelt“.

Das klassische Beispiel ist die Entwicklung im „fruchtbaren Halbmond“, ein Gebiet, das sich vom heutigen Irak über Syrien bis nach Jordanien zog. Dort gab es ungewöhnlich viele leicht zu domestizierende Getreidearten mit von Natur aus bereits ansehnlichen Erträgen. Deshalb erlebten dort die ersten modernen Gesellschaften ihre Blütezeit. Aber Diamond bleibt nicht bei diesem naheliegenden Beispiel stehen. Er deutet auch die Erfindung des Rads, des Alphabets oder des Schießpulvers als Ergebnis der passenden Umweltbedingungen – und das durchaus überzeugend.

Keine dieser Entwicklungen, die modernen Zivilisationen zu ihrer prägenden Rolle verhalfen, entstammt den Köpfen heutiger Europäer oder Nordamerikaner. Sie hatten lediglich das Glück, in Nachbarschaft zu weiter entwickelten Völkern zu leben. Natürlich mussten sie die Gelegenheit auch nutzen. „Zwischen den Gesellschaften ein und desselben Kontinents gibt es erhebliche Unterschiede in der Art und Anzahl der Erfindungen sowie der Einstellung zu ihnen“, konstatiert Diamond.

Wer als Mitglied der westlichen Gesellschaft also stolz auf viele moderne Errungenschaften ist, hat zu einem gewissen Ausmaß recht. Aber mindestens ebenso angebracht wäre eine große Demut gegenüber dem Glück, zur rechten Zeit am rechten Ort geboren worden zu sein.

Jared Diamond: Arm und Reich – Die Schicksale menschlicher Gesellschaften, Fischer Taschenbuch, 14 Euro

Weitere Bücher aus der Reihe "Klassiker neu gelesen":

(anwe)