Lichter und Gesichter

Ein kleines Video gibt Hinweise darauf, wie man im digitalen Zeitalter Gemeinschaftliches, Individuelles und Privates ausbalancieren kann.

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Peter Glaser

Auf die Frage, wie Poesie im 21. Jahrhundert aussieht, gibt es viele Antworten. In einem Negativabgleich: Keine Feuerschlucker in der Fußgängerzone. "Was man erklären kann, ist keine Poesie", so der Dichter William Butler Yeats. Spätestens heute im Internet-Zeitalter haben nicht mehr nur die Dichter das Recht, zu erklären, was keine Poesie ist.

Mit Mio Iran, dem Video von Sebastian Linda, haben wir immerhin schon eine Antwort: Poesie ist, Dinge zu tun, die man sonst nur im Traum schafft, etwa Widersprüche mit Leichtigkeit in einer Schwebe zu halten.

"Komm mit uns, wir zeigen dir die Welt, wie wir sie sehen": Die Stimme im Off listet auf, wovor andere gewarnt hatten vor dieser Reise und erzählt – in Bildern aus Lichtern und Gesichtern – eine andere Geschichte: Welcome to Iran! Große Bilder, enge Gassen, weite Landschaften, auf den ersten Blick fast zu pathetisch.

Aber dann katapultieren einen Effektübergänge zwischen den Szenen manchmal wie übermütige Saltos in die nächste Einstellung, begleitet von Cartoon Noise – einem Geräusch, als würde ein unsichtbarer Superheld mit rüberzischen. Das erdet die schönen Bilder. Vom Netz befruchtet, neigen Dinge ja sonst schnell mal dazu, übermäßig zu werden.

Es ist dann eben doch keine Reiseprospektästhetik. Die Bilder sind auch nicht einfach nur gefilmt, sondern sie bewegen sich mit Netzgeschwindigkeit. Keine Zehntelsekunde an Aufmerksamkeit zu verschenken. Die Übergänge, die da kurz abzischen, sind dezente Hinweise von jemandem, der mit morphenden Musikclips und den Bewegungsabläufen in Videospielen sozialisiert wurde und der das Vimeo- und YouTube-Universum in seinen Feinheiten kennt.

Die eigentliche Poesie von Mio Iran entfaltet sich aus einer rätselhaften Gegensätzlichkeit zwischen dem offen Daliegenden und dem Höchstpersönlichen, zwischen fremdartig schönen Momenten aus Architektur, Alltag, Menschen und einer tagebuchhaften Intimität, Schwangerschaft, Geburt. Der Film ist dem Sohn von Sebastian Linda und seiner Frau Sophia gewidmet, der während der 5000 Kilometer langen Reise geboren wurde – und "wie jeder in Freiheit geboren, wird ihm auch später immer wieder nach dieser Freiheit verlangen."

Der Begriff des Privaten schillert und changiert heute, das Video zeigt das an ungewöhnlichen Orten. Das Internet sorgt dafür, dass immer mehr vormals Privates nun öffentlich wird. Die Wände verschwinden, obwohl die engen Gassen immer noch da sind. Es scheint nur noch so, als ob es Wände gäbe. In Wahrheit sonnt sich eine Gesellschaft im Wandel in einer offenbar zunehmenden Lust an der Geheimnislosigkeit.

(bsc)