Industrie 4.0 und Zimtschnecken

Geht doch: Schweden macht vor, wie Digitalisierung gelingen kann.

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Industrie 4.0 und Zimtschnecken

Roboter-Fertigung bei ABB in Västeras: Mensch und Maschine arbeiten Hand in Hand.

(Bild: Hannover Messe)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Bernd Müller
Inhaltsverzeichnis

Was läuft schief in Deutschland und was muss sich ändern, damit es die Umwälzungen des 21. Jahrhunderts meistern und eine der Top-Wirtschaftsnationen bleiben kann? Unternehmen und (Oppositions-)Politikern fallen in ihren Sonntagsreden eine Menge Antworten dazu ein. Zum Beispiel: Deutschland brauche mehr Mut zur Gründung von Startups, dafür müsste ausreichende Finanzierung bereitstehen, das Steuersystem könnte Innovationsfreundlicher sein. Statt die Nachteile der Digitalisierung wie Datenschutz und Jobverluste zu bedenken, solle man sich lieber ihre Vorteile zunutze machen. Und die Kinderbetreuung könnte besser sein. Und das Bildungssystem. Und und und.

Aber das sind natürlich alles Wunschträume. So ein perfektes Land, das nicht nur die richtigen Ideen hat, sondern diese sogar noch umsetzt, kann es doch gar nicht geben. Oder vielleicht doch? Ein Blick nach Norden zeigt: Ja, so ein Land gibt es. Es heißt Schweden und es ist 2019 das Partnerland der Hannover Messe. Spricht man mit schwedischen Unternehmern, Politikern und mit deutschen Unternehmen, die im Königreich Carl Gustafs Geschäfte machen, ist lehrreich und ein wenig auch frustrierend. Weil man sich fragt: Klingt alles logisch – und warum geht das in Deutschland nicht genauso? Und warum sind dabei alle noch so unfassbar lässig? Jeden Nachmittag wird Fika zelebriert – Kaffeetrinken mit Zimtschnecken. Eine Reise durch das Kernland Skandinaviens macht klar, was möglich ist, wenn man sich mehr traut und wenn man nicht alles so verbissen sieht.

Dass Digitalisierung in Schweden nicht als Schreckgespenst gesehen wird, sondern als Versprechen für ein besseres Leben, liegt an der Mentalität. Schweden sind aufgeschlossen für Neues und sehr digitalaffin, alles wird mit Karte bezahlt, das Land arbeitet sogar an der Einführung einer staatlichen Kryptowährung. Wenn man am Automaten eine Fahrkarte zieht, muss man seinen Namen eingeben – in Deutschland wäre das aus Datenschutzgründen höchst bedenklich, in Schweden ist es normal. "Dadurch nimmt Schweden eine Vorreiterrolle in der digitalen Wirtschaft ein", sagt Yvonne Heidler, Europa-Expertin beim Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau. Für die VDMA-Mitglieder ist Schweden ein wichtiger Partner. Deutschland exportierte 2018 nach Schweden Maschinen für 3,2 Milliarden Euro – mehr als jedes andere Land – und importierte aus Schweden Maschinen für 1,8 Milliarden Euro.

Viele deutsche Unternehmen haben Niederlassungen in Schweden. Sie profitieren vom hohen Bildungsniveau und den vielen Testbeds. Damit sind Pilotprojekte gemeint, wo neue digitale Technologien einfach mal ausprobiert werden. Die Bürger machen dabei gerne mit. Und 3,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts investiert Schweden in Forschung und Entwicklung, das ist Spitze in der EU. Im Bloomberg Innovation Index ist nur Südkorea innovativer als Schweden.

Wo Licht ist, ist immer auch Schatten. Schwedens Probleme erscheinen verglichen mit den deutschen dennoch recht moderat. Der Fachkräftemangel ist ein großes Thema, trotz einer nicht gerade geringen Arbeitslosenquote mit 7,4 Prozent. Vor allem Einwanderer haben es schwer, Arbeit zu finden, dort liegt die Quote bei über 22 Prozent. Nicht so gut sind Schweden im Beackern internationaler Märkte. "Deshalb mögen Schweden deutsche Unternehmen, die sind da erfolgreicher", sagt Jochen Schäfer, Experte für Wirtschaftspolitik beim Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie.

Maschinenbau bei Modig: Der kleine Betrieb in Virserum beliefert die Flugzeugindustrie.

(Bild: Hannover Messe)

Aber vielleicht ist das auch nur skandinavisches Understatement. Denn es gibt sehr wohl kleine Unternehmen, die auf dem Weltmarkt sehr erfolgreich sind. Eines ist Modig, ein Hersteller großer Werkzeugmaschinen. Wenn der Flugzeughersteller Boeing seinen Maschinenpark modernisiert oder erweitert, ist meist auch die eine oder andere Maschine aus Virserum mit dabei. Jetzt möchte man auch mit Konkurrent Airbus ins Geschäft kommen, hofft Junior-Chef David Modig, der mit seinem Vater Percy das Unternehmen in der dritten Generation führt. Billig ist dabei keine Option – nur Qualität und Leistung zählen: 30 Prozent schneller arbeitet eine Modig-Maschine als die der Konkurrenz.

Diesen Anspruch erwarten schwedische Unternehmen auch von ihren Zulieferern. Weshalb sie gerne von deutschen Anbietern kaufen. Modig zum Beispiel ordert Kabel und Stecker bei LAPP, 700 Meter stecken in jeder Maschine. Täglich verlässt eine Lieferung das LAPP-Lager in Ludwigsburg in Richtung Nyköping, wo der schwedische Vertrieb von LAPP sitzt.

Mit seinen 70 Mitarbeitern gehört Modig zu den vielen kleinen Betrieben in Schweden. Nur 8500 Unternehmen im Land haben mehr als 50 Mitarbeiter, einen Mittelstand wie in Deutschland gibt es gar nicht. Ikea, Saab, Volvo sind klangvolle Namen. Und natürlich ABB. Das "A" steht für das schwedische ASEA, das 1988 mit der schweizerischen BBC fusionierte. In Västeras fertigt ABB große Industrieroboter, oder besser gesagt: Sie fertigen sich selbst. Betrug die Automatisierung mit Robotern vor drei Jahren noch null Prozent, sind es heute 50 Prozent. Die Roboter wuchten hunderte Kilogramm schwere Metallteile auf Bearbeitungsstationen, wo diese zu einem Abbild ihrer selbst montiert werden. Das reduziert die Gefahr von Bandscheibenproblemen der Mitarbeiter und erhöht die Effizienz um 40 Prozent.

"100 Prozent Automatisierung wird es nie geben, stattdessen werden Mensch und Roboter enger zusammenarbeiten", sagt Mats Lundemalm, bei ABB für das globale Produktionsengineering zuständig. Wie das geht, zeigt die Montage des Roboterfußes. Hin und wieder greift der Roboter ein Teil oder setzt Schrauben ein, dann zieht er sich auf seine Warteposition zurück und überlässt es dem Menschen, die Schrauben mit dem richtigen Drehmoment anzuziehen. Zu Unfällen kann es dabei nicht kommen. Nähert sich eine Person dem Arbeitsradius des Roboters, stoppt dieser sofort.

"Schweden haben wenig Respekt für Hierarchien", lobt Bernhard Müller, der in der Geschäftsleitung bei Sick für das Thema Industrie 4.0 zuständig ist.

(Bild: Hannover Messe)

Automatisierung ist auch Thema des deutschen Sensorherstellers Sick, der in Linköping ein Entwicklungszentrum betreibt und dort Technologien für Industrie 4.0 und sogar 5.0 untersucht, worunter man bei Sick die selbstlernende und sich selbst organisierende Fabrik versteht. Im Fokus stehen Kameras, die mit atemberaubender Geschwindigkeit Bilder schießen und auswerten, etwa um die Lage von Holzstücken im Sägewerk zu erkennen oder um bei einem Zug, der mit 120 km/h vorbeifährt, zu erkennen, ob sich eine bestimmte Schraube am Fahrwerk gelockert hat. "Schweden haben wenig Respekt für Hierarchien und stellen Sachen in Frage", lobt Bernhard Müller, Mitglied der Geschäftsleitung bei Sick. Und sie können alle hervorragend Englisch, weil es in TV und Kino keine schwedisch synchronisierten Filme gibt, sondern nur mit Untertiteln.

Diesen Spirit exportiert Sick nach Deutschland. In Freiburg-Hochdorf hat das Unternehmen vor einem Jahr eine neue Fabrik eröffnet, die Lichtschranken herstellt. 80 Prozent der Abläufe sind automatisiert, ein paar Handarbeitsplätze gibt es noch, außerdem kümmern sich die Mitarbeiter um stetige Verbesserungen und höhere Effizienz, durch weniger Material im Produktionsfluss, für höhere Qualität und eine größere Variantenvielfalt. Hundert Prozent Industrie 4.0 werde es niemals geben, ebenso wenig die menschenleere Fabrik, so Müller.

Lena Miranda, CEO des Science Parks Mjärdevi: "In Schweden sind die Bürger eng in den Innovationsprozess eingebunden."

(Bild: Hannover Messe)

Sick hat sich ganz bewusst in Linköping eingemietet, mitten im Science Park Mjärdevi. Solche Einrichtungen gibt es im ganzen Land. Insgesamt arbeiten 70.000 Menschen in 5000 Unternehmen in solchen Science Parks, in Mjärdevi sind es 7000 Menschen in 400 Unternehmen. Schweden ist das zweiterfolgreichste Land für Einhörner – Startups, die mit mehr als einer Milliarde Dollar bewertet werden.

Davon ist Agricam noch weit entfernt. Das Startup von Ellinor Eineren im Science Park Mjärdevi hat eine Wärmekamera entwickelt, die Entzündungen von Kuheutern erkennt. Bei Auffälligkeiten beim Melken gibt das System einen Alarm aus und schlägt die passende Behandlung vor. 60 Millionen Euro Schaden entstehen durch Euterentzündungen in der EU. Die Basis für Losgröße 1 möchte Kristofer Skyttner legen. Der Gründer von SkyMaker entwickelt Werkzeuge, mit denen Kunden Produkte designen und maßschneidern können, die Tools erzeugen automatisch die 3D-Daten zur Steuerung von Maschinen und Robotern. Lena Miranda, CEO des Science Parks, lobt das eng verzahnte Innovationssystem in Schweden. Staat, Hochschulen, Unternehmen arbeiteten Hand in Hand. "Wichtig sind dabei auch die Bürger, die wir in Schweden in den Innovationsprozess einbeziehen", so Miranda.

Früher Polizist, heute Kapitän: Bo Thorstensson rüstet seine SS Orion mit neuester Technik aus, darunter eine Wärmepumpe zum Heizen.

(Bild: Hannover Messe)

Einer ist Bo Thorstensson, Kapitän der SS Orion. Einst zur Inspektion von Leuchttürmen eingesetzt, liegt das Museumsschiff heute im Hafen von Stockholm, wo es seit Jahrzehnten liebevoll restauriert wird. Derzeit wird die alte Kohledampfmaschine wieder in Stand gesetzt. Trotzdem schont das Schiff die Umwelt – mit einer Luft-Wärmepumpe, die einen Großteil der Heizwärme erzeugt. Das spart 20 Tonnen CO2 pro Jahr. In Schweden sind Wärmepumpen Standard, 60 Prozent der Häuser haben eine, bei Neubauten sogar 90 Prozent. 30 Sponsoren unterstützen die Restaurierung der SS Orion, darunter Bosch, das die Wärmepumpe beigesteuert hat – und König Carl Gustaf.

Bo Thorstensson revanchiert sich auf seine Weise. Der ehemalige Polizist hat in der Kriminalprävention mit Jugendlichen gearbeitet. "Jugendliche mit Problemen helfen bei der Restaurierung der SS Orion und bekommen eine Chance, im Berufsleben Fuß zu fassen."

Maschinenbedienung einfach gemacht: Bei Sandvik steuern und überwachen die Mitarbeiter die Metallbearbeitung am Bildschirm.

(Bild: Hannover Messe)

(jle)