Kommentar: Das große Vergessen – zum Ende von Google+

Es war eigentlich seit Jahren klar: Google+ wird sterben. Jetzt, da es tatsächlich passiert, ist es Zeit, Bilanz zu ziehen.

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Kommentar: Das große Vergessen – zum Ende von Google+

(Bild: rvlsoft/Shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Torsten Kleinz
Inhaltsverzeichnis

Aus. Vorbei. Weg. Wie so viele Plattformen zuvor hat Google+ seine Schuldigkeit erledigt und wird am heutigen Dienstag offline geschaltet. Anders als viele andere Vorgänger zieht sich Google aus dem Social-Media-Geschäft aber weitgehend kontrolliert und zumindest teilweise freiwillig zurück. Zwar stand am Anfang vom Ende ein handfester Datenskandal – aber wäre das alleine Grund, eine Plattform mit Millionen Nutzern fallen zu lassen, wer wäre noch im Geschäft?

Ein Kommentar von Torsten Kleinz

Torsten Kleinz konzentriert sich als freier Journalist auf Internetkultur und Netzpolitik. Für heise online schreibt er zum Beispiel regelmäßig über die neuesten Streitigkeiten rund um Adblocker.

Natürlich habe ich immer damit gerechnet, dass Google+ verschwinden wird. Zunächst aus Prinzip, weil ich mich nicht wirklich nur in einer Google-kontrollierten Welt abhängig machen wollte. Später aus Überzeugung, weil schon recht bald klar war, dass Google nicht fähig oder gewillt war, Facebook wirklich Paroli zu bieten. Weder Werbung noch andere kommerzialisierbare Nutzanwendungen tauchten auf der Plattform auf. Stattdessen lief der Betrieb und die Entwicklung auf Sparflamme. Schon 2015 verschwand das Ripples-Feature, das den Nutzern eine ungekannte Transparenz über die Diskussionen im Netzwerk verschaffte.

Das Gefühl, vom Rest des Internets weitgehend allein gelassen zu sein, war aus meiner Sicht eine der Stärken von Google+. Hier konnten sich Communities finden, die sich nicht auf Facebook, LinkedIn oder Instagram heimisch fühlten – und die sich zu Nutze machten, dass quasi jeder im Internet bereits einen Google-Account hatte. Die Konversationen konnten somit ohne übersteigerten Leistungsdruck und Like-Fixierung stattfinden.

Auch wenn zahlreiche Initiativen sich darum bemühen, alle Inhalte von Google+ zu sichern – ein lebloses Archiv kann nur ein eingeschränktes Verständnis dafür wecken, was auf der Plattform vorging. Sicher: Wie so viele andere habe ich meine Beiträge durch Googles in vieler Hinsicht vorbildliches Takeout-Interface heruntergeladen. Doch die Unterhaltungen sind verstummt – und selbst meine eigenen Beiträge werde ich nicht auf eine andere Plattform hochladen. Links, die ich in anderen Beiträgen hinterlassen habe, werden nun ins Leere führen. Vielleicht sind sie noch findbar für besonders interessierte Kreise – aber Facebooks Erfolg sollte uns zur Genüge zeigen, dass wir als Gesellschaft gar nicht so furchtbar interessiert sind.

Das ist vielleicht die wichtigste Lektion von Google+. Anders als immer wieder behauptet wird, vergisst das Internet jeden Tag eine enorme Menge an Informationen. Die Webseiten von Nachrichtenmedien ändern sich ständig. Auch wenn die einzelnen Artikel noch abrufbar sind, ist der Kontext der Informationen niemals wieder der exakt gleiche: Ein anderer Mix von Meldungen steht auf der Startseite, Artikelempfehlungen und auch Werbung sind dynamisch generiert. E-Commerce-Websites unterlaufen einer ständigen Veränderung, Angebote auf Reiseportalen überstehen mitunter nur einen Moment, bis ein Algorithmus erkennt, dass sich das Preisgefüge geändert hat. Mal geht auch ein komplettes Musikarchiv durch eine Server-Migration verloren.

Dass nun eine komplette Plattform auf einen Schlag ihr Leben aushaucht, ist eine andere Dimension – und führt uns die Vergänglichkeit fast aller Informationen im Netz eindrucksvoll vor Augen. In gewisser Weise mag das sogar praktisch sein: Ein Lebensabschnitt reiht sich an den anderen – wir wollen nicht ständig in den Kreisen hängenbleiben, in denen wir vor zehn Jahren vielleicht eher zufällig gelandet sind. Doch dass Millionen Menschen auf einmal ihre Brücken in die Vergangenheit abbrechen – das ist nicht normal.

Es wird aber zunehmend normal. Die App-Welt lebt unter den Bedingungen einer ständigen digitalen Amnesie. Wer will schon sehen, was man auf Tinder oder einer anderen Plattform vor Monaten getrieben hat? Snapchat-User leben eh nur im Moment – und wer glaubt schon, dass TikTok viele Jahre leben wird? Irgendwann sind diese Erfahrungen, diese gesammelte Lebenszeit einfach weg – und viele werden es zunächst gar nicht bemerken.