Sicherheits-Experimente

Mercedes "Experimentalsicherheitsfahrzeug"

Wer einen Mercedes kauft, tut das häufig nicht zuletzt aufgrund des guten Leumunds in Sachen Sicherheit. Diesen Schwerpunkt will Daimler auch zukünftig ausbauen und zeigt anhand des Versuchsfahrzeugs ESF 2019 Ausblicke auf kommende Sicherheits-Systeme

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Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Eines der Verkaufsargumente für einen Mercedes war seit jeher seine Insassen-Sicherheit. Entsprechend hoch hängte Daimler das Thema in der Entwicklung seit Anbeginn. In den Siebzigern beteiligte sich der Konzern am US-Projekt „Experimental Safety Vehicle“ (ESV), ins Leben gerufen vom Department of Transportation (DoT). Es sollte über Demo-Fahrzeuge den Weg zu sichereren Autos zeigen, die nicht irgendwann, sondern schon in den Achtzigern in den Showrooms stehen sollten. Die zunächst recht naiven Vorgaben des Programms resultierten jedoch in riesigen, gelängten, schweren Limousinen, die sich als Serienprodukt kaum eigneten.

Ein großer Dorn im Auge der Entwickler war die im Konzept erst einmal geforderte hohe Aufprallgeschwindigkeit von rund 80 km/h im Crash, kombiniert mit der Forderung, dass die Stoßfänger Stöße bis 16 km/h ohne bleibende Verformungen fangen. Das führte zu sehr langen, sehr schweren, sehr hässlichen, sehr teuren Gefährten, die niemand gekauft hätte, selbst wenn sich jemand getraut hätte, sie zu produzieren. Es musste anders gehen. Das ESV-Programm und die Firma Daimler gingen bald getrennter Wege, hatten aber ähnliche Ideen.

Die Mercedes-interne Ausrichtung wandelte sich von „was könnte man machen, um ein Auto IM UNFALL sicherer zu machen?“ zu „was könnten wir in der nächsten Generation in Serie anbieten, das Kunden auch kaufen?“. Das bedeutete eine Abkehr von der passiven, schweren, teuren Panzersicherheit hin zu aktiven Systemen, die Unfälle idealerweise ganz vermeiden, mindestens aber in ihren Folgen so abmildern, dass eine praxistaugliche Panzerung ausreicht. Der Name der Versuchsträger bei Daimler lautete erst „Experimentiersicherheitsfahrzeug“ und später näher am Impulsgeber aus den USA „Experimentalsicherheitsfahrzeug“ (ESF). 2009 gab es ein Revival mit dem ESF 2009. Heute, zehn Jahre später, hat Mercedes wieder ein Fahrzeug gebaut, das Ausblicke geben soll auf das, was Autofahren in der nächsten Zeit sicherer machen könnte. Die Ausrichtung blieb dabei dieselbe: Der beste Unfallschutz ist die Unfallvermeidung.

Soziale Zeitzeichen

Wie jedes ESF zeigt auch dieses die Trends seiner Zeit. Natürlich ist es ein SUV (Basis: Mercedes GLE). Natürlich fährt es (gelegentlich) elektrisch (als PHEV). Natürlich sitzen Lidar-Pods auf dem Dach, weil Daimler ans automatisierte Fahren denkt. Der zentrale Sicherheitsgedanke, den die Ingenieure hier vorstellen, ist jedoch ein zeitloser: Ein Auto, das so viel aktive Sicherheitstechnik mitbringt, kann diese zum Wohl aller nutzen, nicht nur für das der Insassen. So soll das ESF zum Beispiel an der Ladestation einen kleinen Teil der Energie dafür verwenden, dass es sich umschaut und Verkehrsteilnehmer voreinander warnt.

Ein unaufmerksamer Fußgänger zum Beispiel wird von den Scheinwerfern angestrahlt, akustisch gewarnt und das ESF blinkt mit LEDs und Warnzeichen auf seinen Front- und Heckbildschirmen – das Auto als Infrastruktur für den Mischbetrieb mit nichttechnischen Verkehrsteilnehmern. Das können außer Fahrradfahrern und Fußgängern auch unvorsichtige Haustiere sein. Der Infrastrukturgedanke geht in Fahrt weiter: Der Heckbildschirm zeigt den Fußgängerüberweg vor dem ESF oder den Hinweis, dass die Automatik gerade nicht aus Spaß an den Rand fährt, sondern um eine Rettungsgasse zu bilden. Aktiv oder passiv: Der künftige Verkehr wird komplett aufgezeichnet und protokolliert werden.

Virtuelle Knautschzone

Für die Insassen erdenkt Mercedes eine „virtuelle Knautschzone“. Gemeint ist das, was in den aktuellen Modellen bereits verkauft wird: Befürchtet das Auto einen bevorstehenden Crash, zieht es die Gurte an, spannt die Bremsen vor, bremst selbst, wenn es der Fahrer nicht tut, spielt ein rosa Rauschen ein, das den Gehör schützenden Stapedius-Reflex auslöst, und schubst den Insassen im Sitz leicht vom Seitenaufprall weg, um ihm mehr Überlebensraum zu schenken. Die genannten Dinge sind bereits Serie, sollen aber künftig weiter ausgebaut werden.

So könnte ein Fahrzeug am Ende eines Staus nach vorne springen, wenn von hinten ein unterbremstes Auto heranschießt. Da es den Streckenverlauf kennt, könnte es bei höherer Kurveneingangsgeschwindigkeit den Gurt vor dem Einlenkpunkt etwas anziehen. Gedacht ist das auch als Kommunikation, sanfter als der rabiatere Sicherheits-Prä-Gurtstraffer, der dir im Rennstreckenbetrieb die Luft aus den Rippenbögen ruppt. Ein seriennah wirkendes System erkennt Fußgänger so gut, dass es beim Rangieren automatisch das Fahrzeug stoppt, wenn der Fahrer trotz Warnungen sonst mit einem schwächeren Verkehrsteilnehmer kollidiert wäre.