Der c’t-Legocrash 2.0: ADAC-Prüfstand versus Crash-Simulation

Der Ausgang des c't-Legocrash wurde von Simulations-Profis prognostiziert. Viele Details stimmten überein – bis auf einige interessante Abweichungen.

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Crash-Test ADAC
Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Sven Hansen
Inhaltsverzeichnis

Heute schlägt die Stunde der Wahrheit. Heute stehen wir auf der Crash-Anlage des ADAC Technikzentrums in Landsberg am Lech. Mit im Gepäck sind die zwei Lego-Supercars. Gestern noch standen sie im Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart, wo uns die Simulationsprofis von DYNAmore eine Prognose für den Ausgang des heute stattfindenden Seiten-Crashs nach Euro NCAP mit 60 km/h gegeben haben. Nach einer Präsentation in der 3D-Cave des HLRS und der detaillierten Besprechung am Rechner hatten sie das Aufreißen des Bugattis prognostiziert, die Fahrerkabine des Porsches sollte hingegen intakt bleiben. Auf ct.de/crash können Sie die einzelnen Schritte nachvollziehen.

Bevor es kracht, ist wie bei jedem großen Crash einiges an Vorbereitung nötig. In der Redaktion wurden die Fahrzeuge für ihren Auftritt aufgehübscht. Sie sind mit den für Crash-Fahrzeuge üblichen Rasterstreifen und einer offiziellen Crash-ID beklebt: SI3019PB01 steht für „Side Impact KW 30 2019 Porsche und Bugatti erster Versuch“.

Hier im Technikzentrum des ADAC ist Testleiter Johannes Heilmaier der Chef im Ring und kümmert sich zunächst um die Positionierung der Fahrzeuge. Erste Hürde: Am zweitwärmsten Tag des Jahres haben sich die Stahlschienen der Beschleunigungsstrecke derart ausgedehnt, dass die zwei Führungsklötze des Porsche-Modells schleifen. Sie halten das Fahrzeug in der 168 Meter langen Bodenschiene auf Spur. In ihr verläuft die Stahltrosse, die sonst tonnenschwere Fahrzeuge in Bewegung setzt und kurz vor Erreichen der Crash-Zone gestoppt wird, damit die Fahrzeuge frei gegen das Hindernis prallen.

Nachdem die zwei Führungsklötze minimal nachgearbeitet sind, rollt der Porsche fast widerstandslos durch die Crash-Halle, sobald man ihn anschubst. Ob er die Beschleunigung auf 60 km/h aushalten wird, ist aus meiner Sicht zweifelhaft. Ich befürchte, dass er seine Räderchen verliert und als orangene Lego-Wolke in den Crash-Bereich fliegt. „Die Vorderräder stabilisieren sich beim Fahren“ – zumindest Johannes Heilmaier gibt sich diesbezüglich optimistisch.

Die zweite Hürde kostet mehr Zeit. In der simulierten Welt gab es nur eine Schiene, die Zugschiene, die für die Berechnung des Crashes wichtig war. Das Stahlseil läuft jedoch in zwei Richtungen, also zwei Schienen, durch die Halle. Für echte Crashtests wegen der großen Spurweite und des Achsenabstands der Fahrzeuge kein Problem. Doch beim kleinen Lego-Modell des Bugattis landen die Vorderräder just in der rücklaufenden Schiene – mit derart tiefergelegter Frontpartie würde das Ergebnis komplett anders ausschauen als in der Simulation. Die Lösung ist dann doch ganz einfach: Wir verlagern das Geschehen ans Ende der Halle, wo von den zwei Stahlschienen nur noch eine offen bleibt.

Danach geht es ans Einrichten der acht Highspeed-Kameras. Jede Photron-SA6 kann 2,5 Sekunden Full-HD-Material mit 1000 Bildern pro Sekunde aufzeichnen. Das Material wird zunächst in der Kamera abgelegt und dann per Netzwerk an den Leitstand in der Halle übertragen. Hinzu kommen diverse Action-Cams, die das Geschehen dokumentieren sollen. Ein auch bei großen Crashs genutzter, gelber Auslöseschalter am Bugatti sorgt dafür, dass die Kameras die Bilder rund um den Moment des ersten Kontaktes festhalten. Für das nötige Licht kommt ein Cluster aus 300 Halogenstrahlern à 1000 Watt zum Einsatz. Die Umstellung auf LEDs läuft gerade an: „Die ersten LED-Leuchten haben wir schon im Test“, erklärt Heilmaier. Da handelsübliche LEDs flackern, braucht es für die High-Speed-Aufnahmen spezielle Hochleistungs-LEDs, die auf die Kameraanlage abgestimmt sein müssen.

Um 13:00 ist es endlich soweit. Alle ziehen sich aus Sicherheitsgründen in den Leitstand zurück und Heilmaier gibt das Startsignal. Dank des gelben Rundumsignals und der Alarmtröte weiß nun jeder auf dem Gelände, dass es ernst wird.

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60 km/h ist verdammt schnell – vor allem, wenn es ein Lego-Auto ist, das an einem vorbeizischt. Mit einem trockenen Geräusch schlägt das orangene Geschoss im Bugatti ein, es folgt das leise Prasseln herabregnender Legosteine. Zusammen mit den Simulationsprofis Marko Thiele und Thorsten Gerlinger von DYNAmore betreten wir nach dem Crash das Trümmerfeld. So viel ist sicher: Der Porsche ist korrekt gefahren und hat das querstehende Fahrzeug punktgenau erwischt. Durch die Verschiebung ans Streckenende finden sich die meisten Trümmerteile nahe der Wand, hinter der sich die hydraulische Zuganlage befindet. Auf den ersten Blick weicht das Ergebnis erheblich von der Simulation ab: „Sogar der Hinterwagen hat sich aufgelöst“, stellt Thorsten Gerlinger fest.

Das Testfeld gleicht eher einem Schlachtfeld. Reste von Bugatti und Porsche liegen dicht beieinander – offensichtlich hatten unsere Fahrzeuge durch die Verlegung des Crashs nicht genug Raum zum Ausrollen. Der Bugatti ist komplett in zwei Hälften zerrissen, die Fahrgastzelle des Porsches ist zerstört. Die „Simulanten“ hatten in der Virtualität auch mit Geschwindigkeiten von 100 km/h experimentiert und eine Kernerkenntnis formuliert: „Ab einer gewissen Geschwindigkeit könnte man die Steine auch in die Luft werfen“ – ein wenig schaut es genau danach aus.

Der Zerstörungsgrad ist eindeutig größer als erwartet, der für den Bugatti prognostizierte Riß im Unterboden hat sich jedoch bei näherer Betrachtung an der prognostizierten Stelle aufgetan, bevor das Fahrzeug zerrissen ist. Auch die besonders steife Struktur unter dem vorderen Kofferraum des Porsches ist wie vorhergesagt schwer geschädigt. Zwar ist keines der markierten Teile gebrochen, aber in einem der Steine steckt ein stark verformter Zapfen, der einen Großteil der Energie aufgenommen hat.

Hier hatten die Simulations-Experten eine mögliche Bruchstelle markiert. Doch der benachbarte Zapfen scheint die Energie durch Verformung aufgenommen zu haben.

Die Dummys liegen unter den Trümmern begraben. Unser c’t-Dummy aus dem 3D-Drucker, der „rote Horst“, hat eine Hand verloren. Überlebt hätten wohl beide nicht, denn die Fahrgastzellen beider Fahrzeuge sind weitgehend zerstört. Im Porsche ist zumindest noch der Beifahrersitz in seiner Verankerung.

Beobachtet hat den Test auch Andreas Rigling vom ADAC, der sich im Bereich Fahrzeugsicherheit auch mit Simulations- und Validierungsverfahren beschäftigt. „Die Kombination aus Simulation und realem Test nutzen wir auch bei Fahrzeugtypgenehmigungen oder bei Tests für Verbraucherschutzthemen“, erklärt er im Gespräch. „Durch diese Kombination werden wir zukünftig die Verbraucherschutz-Bewertungen noch komplexer und realistischer abbilden können – im Fachjargon Validierung genannt“, so Rigling. „Um so wichtiger ist es, die Datenmodelle anhand echter Crashtests zu überprüfen.“ In unserem abweichenden Realtest sieht Rigling eine Bestätigung für seine These: „Ohne Real-Crashes wird es in absehbarer Zeit nicht gehen.“

Zurück in Hannover unterziehen wir die Wrackteile einer genaueren Untersuchung. Zumindest ein Rätsel lässt sich schnell auflösen: das verlorene Heck unseres Lego-Porsches. Die Highspeed-Aufnahmen verraten, dass es nach der Kollision mit dem Bugatti zunächst wie prognostiziert intakt bleibt.

Die vordere Partie des Porsches wurde zerstört, die Fahrgastzelle ist kollabiert. Das Heck blieb zunächst intakt, riss durch eine nachgelagerte Kollision jedoch ab.

Sobald die Wracks den Ausleuchtungsbereich der Scheinwerferanlage verlassen, verschwinden sie zwar in der Dunkelheit, doch eine der Action-Cams hat den hinteren Bereich eingefangen: Der Porsche landet nach einer Flugphase zunächst „wohlbehalten“, verunfallt danach aber ein zweites Mal an einer Kante. Hier erst wird das Heck zerstört.

Auch das Schadensbild des Bugattis ist insgesamt zwar deutlich stärker ausgebildet, im Detail aber erstaunlich präzise getroffen. So hat uns bei der Simulation immer verwundert, dass Kühlergrill und linker Vorderreifen fast in der Luft stehen bleiben. Tatsächlich schaut es im realen Video nicht viel anders aus. Die Verbindungen lösen sich beim Einschlag des Porsches und die Teile bleiben zunächst stehen, der Reifen wird erst danach durch Wrackteile mitgerissen.

Kaputte Teile gibt es wenig, die prognostizierte B-Säule des Bugattis gehört nicht dazu. Im vorderen Bereich des Porsches haben die Kräfte hingegen gewütet: Eine Bodenplatte ist angebrochen und auch eines der Karosserieelemente über dem Scheinwerfer ist gerissen. Können die Crash-Experten denn sagen, um welche Seite es sich handelt? Sie können. Die Simulation weist für den Flügel auf der rechten Seite deutlich höhere Belastungen aus als für seinen Zwilling – das ist tatsächlich das Teil, das eingerissen ist.

Unter den Wrackteilen findet sich auch eine gebrochene graue Lego-Technik-Stange. Doch so, wie wir sie mit dem angehängten orangenen Teil gefunden haben, lässt sie sich im Bauplan nicht zuordnen. Es gibt zwar eine ähnliche Konstruktion im Vorderbereich des Lego-Porsches, aber die entsprechenden Bauteile finden sich bereits unter den Wrackteilen. Das Gegenstück zur gebrochenen Stange bleibt unauffindbar – ein Rätsel.

Statt „Bugatti-Banane“ nun „Banana-Split“. Die prognostizierte Position des Risses stimmte, doch das Fahrzeug blieb nicht in einem Stück.

Die Simulationsexperten nutzen das frische Material vom ADAC und wollen herausfinden, warum der reale Crash deutlich heftiger verlaufen ist als prognostiziert. Ihr Ergebnis: Zum einen hat das durch die hohe Umgebungstemperatur veränderte Materialverhalten zu einem insgesamt stärkeren Schadensbild beigetragen. Eine zentrale Rolle spielen dabei die kleinen Kunststoff-Clips, die zu hunderten in den Modellen stecken und für die Festigkeit sorgen. „Die geschlitzten Stifte verhalten sich wie kleine Federn, Material und Schlitztiefe entscheiden, wie fest sie sitzen“, erklärt Gerlinger. Erwärmt sich der ABS-Kunststoff, gibt er leichter nach und die Verbindungen lösen sich früher als erwartet.

Gerade in der ersten Phase des Crashs gibt die Simulation den Crash-Verlauf gut wieder.

„Wahrscheinlich haben wir zudem die Kontaktsteifigkeit zu hoch angesetzt“, meint Thorsten Gerlinger. Der Parameter bestimmt, wie tief benachbarte finite Elemente ineinander eindringen können, bevor sie voneinander abgestoßen werden. Am Ende entscheidet er somit auch indirekt über die Elastizität der Verbindungszapfen.

Eine Schwachstelle sehen die Simulationsexperten im Nachhinein in der stark vereinfachten Materialbeschreibung, die dem virtuellen Crash zugrunde lag. „Der Faktor Material spielt auch bei den Simulationen in der Fahrzeugindustrie eine entscheidende Rolle“, erklärt Marko Thiele von DYNAmore. Die sogenannte Dehnratenabhängigkeit gibt an, wie sich ein Material in Abhängigkeit von der Schnelle der einwirkenden Belastung verändert. „Es macht einen großen Unterschied, ob man das Material einem schnellen Impuls aussetzt oder ob es unter sanftem Druck steht.“ Die zugrunde liegenden Materialgesetze werden sonst in zeitraubenden Vorabtests mit unterschiedlichsten Umgebungsparametern erhoben.

Eines der Bauteile wies nach dem Crash eine deutliche Verfärbung auf, was auf eine Materialschädigung hinweist. Die Schwachstelle tritt auch in der Simulation oben deutlich hervor.

Eben diese Materialgesetze müssen auch für die Vorhersage des Materialversagens stimmig sein. In der Fahrzeugindustrie gewinnt das Thema derzeit an Bedeutung. „Normalerweise sollen Werkstoffe natürlich nicht versagen, sondern Energie durch ihre Verformung aufnehmen“, erklärt Thiele. Um Gewicht zu sparen, kommen jedoch verstärkt hochfeste Stahlsorten zum Einsatz, die bei dünneren Blechen mehr Last abfangen können. Da diese Stahlsorten spröder sind, geht es bei den Crashs auch zunehmend um das kontrollierte Materialversagen an Sollbruchstellen im Fahrzeug. Die Forschung zur Vorhersage des richtigen Materialverhaltens in der Crashsimulation sei Thema unzähliger Dissertationen, so Thiele.

Mit dem Ergebnis sind er und das Team DYNAmore zufrieden: „Dafür, dass es sich um ein chaotisches System handelt und derart viele Elemente im Spiel waren, kann sich die Prognose sehen lassen.“ Und doch lässt es ihm am Ende keine Ruhe, die Crashsimulation wird mithilfe der neu gewonnenen Erkenntnisse optimiert. Der Bugatti lag wegen seiner laschen Federn vier Millimeter tiefer als in ursprünglichen Simulation, der Reibungsparameter war mit dem Faktor 0,6 niedriger als die vor Ort gemessenen 0,8. All dies fließt – natürlich – in einen weiteren Simulationsdurchlauf ein. So lange, bis die neue Simulation annähernd das Ergebnis des realen Tests widerspiegelt. Es ist genau dieser Hang zum Perfektionismus, der mir bei allen Beteiligten unserer Lego-Wette begegnet ist. Aus meiner Sicht ist die Wette gewonnen.

Am Ende löst sich sogar das Rätsel der gebrochenen Lego-Stange auf – sie stammt vom Crashtest von 2017. Weil bei unserem Seitenaufprall so viele Steine in den Motorraum der Zuganlage der ADAC-Teststrecke geflogen sind, wurde nach dem Test gründlich gefegt. Dabei kamen offensichtlich auch Steine zum Vorschein, die dort seit zwei Jahren lagen. Das Gegenstück hing die ganze Zeit am alten Porsche-Wrack, das auf meinem Schreibtisch steht.


Dieser Artikel stammt aus c't 22/2019.
(sha)