Missing Link: Der Open-Source-Motor für grüne Technologien

Strategien aus der Open-Source-Szene können die Entwicklung hin zu mehr Nachhaltigkeit beschleunigen: ein Turboknopf für den ökologischen Umbau der Gesellschaft

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 129 Kommentare lesen
Frühling, Sonne, Wald

(Bild: Peshkova / shutterstock.com)

Lesezeit: 15 Min.
Von
  • Christiane Schulzki-Haddouti
Inhaltsverzeichnis

Dass Klimaschutz und Digitalisierung momentan ganz oben auf der politischen Agenda stehen ist offensichtlich: Die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat beide Themen zu den wichtigsten Baustellen ihrer Präsidentschaft erklärt und kurzerhand zwei der drei zu besetzenden Top-Posten des Exekutiv-Vizepräsidenten für sie reserviert. So sollen Frans Timmermans den Klimaschutz und Margrethe Vestager die Digitalisierung vorantreiben.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Nicht mehr die Digitalisierung, sondern die Klimakrise und das Artensterben gelten inzwischen als die größte Herausforderung der Menschheit. Doch beide Entwicklungen können zusammenfinden: Ein möglicher Baustein einer Strategie zur Bewältigung der damit verbundenen Krisen können nämlich Freigabestrategien nach dem Open-Source-Modell sein.

Unterstützung dafür gibt es von akademischer Seite: Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) fordert in seinem aktuellen Gutachten "Unsere gemeinsame digitale Zukunft" von der Politik, die Digitalisierung in den Dienst nachhaltiger Entwicklung zu stellen. Eine Konsequenz daraus ist nun, dass das Bundesforschungsministerium Mitte Dezember einen Aktionsplan zur Digitalisierung und Nachhaltigkeit vorlegte . All das sind völlig neue Töne. Denn, so stellen die Nachhaltigkeitsforscher Tilman Santarius und Steffen Lange in ihrem lesenswerten Buch "Smarte grüne Welt?" fest: "Bislang wurden digital- und netzpolitische Diskussionen noch kaum mit dem Ziel einer sozialökologischen Transformation der Gesellschaft verbunden".

In den letzten Monaten fielen nicht nur zivilgesellschaftliche Gruppen wie Luftdaten.info mit Offenlegungsstrategien auf. Auch Startups und etablierte Firmen wie Toyota und Tesla stiegen auf das Thema ein. Sie versuchen damit, sich im anstehenden sozialen und ökologischen Transformationsprozess besser zu positionieren. Anhand von vier Fallbeispielen lässt sich erkennen, wie vielfältig sich die Umsetzung des Open-Source-Prinzips in Wirtschaft und Gesellschaft gestaltet.

Seit Jahren schien die Situation beim Thema Luftverschmutzung in Deutschland festgefahren zu sein: Die Entwicklung der Luftqualität besonders in den Städten auf niedrigem Niveau. Das Stuttgarter Projekt Luftdaten.info hat daher mit Unterstützung der "Open Knowledge Foundation" Anleitungen zum Bau von Feinstaub-Messgeräten entwickelt und ins Netz gestellt (siehe "Staubfänger: Feinstaub- und Umweltdatenmessgerät mit ESP8266 aufbauen" in c't 12/2019 S. 154).

Jeder Bürger kann sein eigenes Messgerät bauen. Rege Do-it-yourself-Communities gibt es weltweit in zahlreichen Städten. Inzwischen sind knapp 9000 Sensoren in 68 Ländern gleichzeitig aktiv. 4900 senden aus Deutschland, in fast jeder Stadt finden sich die selbstgebauten Messgeräte.

Die Technische Universität Berlin hat für eine Studie die Daten der Berliner Sensoren von Luftdaten.info ausgewertet. So konnte sie nicht nur chronisch belastete Straßen und Bahnhöfe ausmachen, sondern auch hohe Werte in den Einflugschneisen des Flughafen Tegel entdecken. Auch Großveranstaltungen hinterlassen nachweisbar ihre Spuren durch erhöhte Feinstaubwerte.

Seit Mai gibt es zwei Web-Apps für Luftdaten.info: Unter meine.luftdaten.info erledigen Nuter die Anmeldung und Konfiguration der Sensoren. Alle Sensordaten werden über die App gesammelt und archiviert. Sie sind unter der "Open Database License" zugänglich und auswertbar. Über app.luftdaten.info lassen sich einzelne Sensoren beobachten und Nutzer können sich bei Überschreitungen per Mail benachrichtigen lassen. Hier kann man selbst festlegen, ob man sich beim Überschreiten des gesetzlichen Feinstaub-Grenzwerts von 50 µg/m³ warnen lässt, oder schon sehr viel früher. Auch kann man den Zeitraum festlegen, in dem der Mittelwert der Sensoren den Grenzwert nicht überschreiten darf.

Aus den erhobenen Sensordaten privater Nutzer generiert das Projekt eine Feinstaub-Karte, deren Daten alle fünf Minuten aktualisiert wird. Je rötlicher sich eine Kachel färbt, desto mehr Feinstaubpartikel wurden gemessen. Mit den Echtzeitwerten lassen sich hier aktuelle Staubbelastungen besser zeigen, auch etwa durch Brände. Die Karten amtlicher Messstationen zeigen hingegen meist 24-Stunden-Durchschnittswerte an, die immer hinter der aktuellen Entwicklung herhinken.

Initiator Jan Lutz hofft, dass mit steigenden Nutzer- und Sensorzahlen nicht nur das technische, sondern auch das politische Interesse an einer besseren Luftqualität wächst. Durch die offen zugänglichen Messdaten soll der politische Druck wachsen. Ziel von "Luftdaten.info" ist es, dass die Politik geeignete Maßnahmen ergreift, sobald Grenzwerte überschritten werden.

Mittelfristig könnten die privaten Sensordaten die offiziellen Messdaten ergänzen, indem sie in Echtzeit auf Hotspots hinweisen. Diese wiederum ließen sich von den offiziellen Messstationen der Umweltämter überprüfen, die auch
gerichtsfeste Daten liefern.