Post aus Japan: In China wäre das nicht passiert

Der ehemalige Chef der Renault-Nissan-Allianz ist aus Japan in den Libanon geflohen. Technische Lücken halfen ihm bei der spektakulären Tat.

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Post aus Japan: In China wäre das nicht passiert

Ghosn – hier in besseren Tagen und außerhalb jeglicher Instrumentenkoffer.

(Bild: École polytechnique - J.Barande / Wikipedia / cc-by-sa-2.0)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Martin Kölling
Inhaltsverzeichnis

Carlos Ghosn kann sich glücklich schätzen, dass Japan nicht Chinas Liebe für den Überwachungsstaat teilt. Im Reich der Mitte hätten Gesichtserkennungsprogramme und Ausweiskontrollen an Bahnhöfen die Flucht des ehemaligen Chefs der Renault-Nissan-Mitsubishi-Allianz von vornherein vereitelt oder zumindest signifikant erschwert. Doch Japan ist, was Überwachung angeht, noch relativ rückständig, da die Menschen bisher noch ihre Privatsphäre lieben. Dies belegen die bisher bekannten Details von Ghosns illegaler Reise von Nippon in den Libanon.

Die Geschichte beginnt mit einem Ghosn im Glück, relativ gesehen wenigstens. Der Nissan-Boss wurde im November 2018 festgenommen und danach wegen vermeintlichen Verstößen gegen Finanzmarktgesetze und Veruntreuung angeklagt. Im Falle eines Schuldspruchs drohen ihm nun mehrere Jahre Haft. Aber Ghosn hatte das in Japan eher seltene Glück, dass die Richter ihn schon vor dem Prozess auf Kaution entließen. Und so durfte er in Tokio in einer eigenen Wohnung leben und sogar allein vor die Haustür treten.

Post aus Japan

Japan probiert mit Elektronik seit jeher alles Mögliche aus - und oft auch das Unmögliche. Jeden Donnerstag berichtet unser Autor Martin Kölling an dieser Stelle über die neuesten Trends aus Japan und den Nachbarstaaten.

Kameras zeichneten zwar sein Kommen und Gehen auf – das war eine der Bedingungen für die Freilassung, aber die Videos wurden nicht direkt zur Polizei übermittelt, sondern aufgezeichnet und einmal im Monat dem Gericht übergeben. Und so konnte Ghosn am 29. November 2019 nach bisherigen Darstellungen um 14:30 Uhr ungestört das Haus verlassen. Danach ging er offenbar in ein nahes Hotel, wo er sich mit seinen zwei Fluchthelfern traf. Eine elektronische Fußfessel, die den Behörden mitgeteilt hätte, wo sich der Verdächtige befindet, gab es nicht.

So weit war alles noch legal. Aber bald schon sollte Ghosn gegen seine Kautionsbedingungen verstoßen. Das Trio fuhr schnurstracks zum Bahnhof Shinagawa und stieg dort auf einen Superschnellzug nach Osaka. In China wäre er wahrscheinlich schon am Eingang zum Bahnhof gescheitert. Denn dort müssen Passagiere sich schon vor dem Betreten des Gebäudes ausweisen und ihr Gepäck röntgen lassen. Der Flüchtling hätte wohl keine Chance gehabt, den Gesichtserkennungsprogrammen zu entkommen.

In Japan hingegen gibt es erstens keine Einlasskontrollen an Schnellzugbahnhöfen. Zweitens dienen die Videosysteme der Bahngesellschaften der Kontrolle und nicht der totalen Überwachung. Und die althergebrachte analoge Gesichtskontrolle durch Reisende lässt sich leichter austricksen als die neuen Gesichtserkennungsprogramme, denen schon ein Blick auf einen Bruchteil des Gesichts reicht, um Personen aus der Menge zu fischen. Dies haben Ghosn und die Staatsanwälte schon einmal selbst demonstriert, als sie den gefallenen Manager-Star voriges Jahr bei seiner Freilassung unerkannt aus dem Gefängnis schmuggelten.

Damals wurde er mit Operationsmaske vor dem Gesicht und einem Hut auf dem Kopf zum Auto geführt. Und nicht einmal die aufmerksamen Journalisten haben ihn erkannt. Genauso könnte er sich nun im Zug und in Osaka unerkannt bewegt haben. Und kein Japaner hätte sich etwas bei einer Vermummung etwas Böses gedacht. Denn viele Menschen schützen sich (oder, bei Erkrankung, die Umwelt) hierzulande mit Masken vor Erregern.

In Osaka ermöglichte dann offenbar eine weitere technische Unzulänglichkeit seine Flucht: die Scanner am Flughafen. Ghosn und seine Helfer besuchten in Osaka offenbar ein Hotel, wo er in einen großen schwarzen Kasten für Audioanlagen stieg (ein Kontrabass-Koffer, wie zuvor in Medien behauptet, war es nicht).

Das Kalkül: Die Röntgengeräte am Terminal für Chartermaschinen am dortigen Flughafen waren zu klein, um die großen Kisten durchleuchten zu können. Wenn diese Story stimmt, wurden die Kisten offenbar von Zöllnern und Sicherheitspersonal nur von außen in Augenschein genommen.

Die Flucht war damit so abenteuerlich, dass es nicht nur die Fantasie der Überschriftenmacher anregte ("Gone, Gone, Ghosn", "Ghosn with the wind"...), sondern auch die Pressesprecher bei Yamaha Music, einem bekannten Hersteller von Musikinstrumenten. Das Unternehmen twitterte eine "Bitte", Ghosns Fluchtmethode nicht mit Musikinstrumentekästen seines Unternehmens nachzuahmen.

Man wolle nicht den Grund nennen, so das Unternehmen, aber es gäbe gerade viele Tweets über Personen, die sich in große Instrumentenkästen legen würden. Man möge dies besser unterlassen, so das Unternehmen. "Nach einem unglücklichen Unfall ist es zu spät."

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