Das schmelzende Zeitfenster

Mit einer App helfen sich die Eisjäger im Norden, passende Routen zu finden.

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Das schmelzende Zeitfenster

(Bild: SIKU)

Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Wenn Kanadas Inuit beim Jagen einen sicheren Weg über das zugefrorene Meereis suchen, testen sie seine Tragfähigkeit, indem sie ihre Harpune auf das Eis stoßen. Von gefährlichen Rissen im Eis konnten sie bisher nur persönlich bei der Rückkehr berichten. Jetzt können sie solche wichtigen Informationen gleich vor Ort in die Satellitenkarte der neuen App „Siku“ eintragen. Das Wort bedeutet im Inuktitut-Dialekt der ostkanadischen Inuit „Meereis“.

Wie wichtig rechtzeitige Warnungen sein können, zeigt das Beispiel des Jägers, der in der Satellitenkarte der App einen scheinbar gewöhnlichen, schmalen Riss im Eis markierte. Da ihm seine Erfahrung sagte, dass diese Art Riss durch den Wind aufbrechen und sich stark verbreitern kann, fügte er eine entsprechende Warnung an die Rissmeldung an. Satellitenaufnahmen ein paar Stunden später gaben ihm recht: Jäger auf der Meeresseite des Risses wären nicht mehr zurück an Land gelangt.

Die Initiative für die App ging denn auch im Wesentlichen von älteren Inuit aus. Sie wollten ihre Erfahrungen über die Jagd, das Wetter und die Umwelt an die jüngeren Generationen weitergeben. Auch wenn deren Alltag von moderner Technik und sozialen Netzwerken geprägt ist, leben sie dennoch traditionell von der Jagd. Deshalb ließ die „Arctic Eider Society“ (auf Deutsch: Arktische Eiderente Gesellschaft) Siku in Abstimmung mit Inuit-Siedlungen und -Organisationen entwickeln.

„Inuit haben ihr eigenes, detailliertes Klassifizierungssystem für Eis“, sagt Joel Heath, Direktor der Arctic Eider Society. Auf der Siku-Karte lassen sich neben Eiszustandsmeldungen auch GPS-Routen einer Jagd sowie Sichtungen von Robben, Narwalen und Eisbären markieren, um sichere Regionen und Jagdgebiete zu kennzeichnen. Erfolgreiche Jäger können Fotos und Blogs hochladen. Zudem bündelt die App unter anderem auch Wetter- und Gezeitenvorhersagen.

Ein weiterer Grund für die Entwicklung von Siku ist die steigende Zahl der Eisunfälle in den vergangenen Jahren. Jäger brachen überraschend ein, und zwar nicht immer aus mangelndem Wissen. Arktische Meeresgebiete wie die Hudson-Bucht und die Labradorsee erwärmen sich durch den Klimawandel deutlich schneller als andere Gebiete.

Damit einher­gehende extreme Wetterumschwünge können gefährliche Veränderungen im Eis verdecken. Der Winter ist bis zu sechs Wochen kürzer als in historischen Aufzeichnungen, und die Größe des Meereises, beispielsweise in der Labrador-Region, ist um etwa ein Drittel kleiner als noch vor zehn Jahren. Das Zeitfenster für die Wissensweiter­gabe schmilzt dahin wie das Eis.

„Wissenschaftler kommen und gehen und nehmen am Ende immer ihre Daten mit“, sagt Heath. Ihre Forschungsinteressen decken sich zudem nicht ­immer mit denen, die für die Inuit ­unmittelbar wichtig sind. „Mit Siku können sie ihre eigenen Messungen sowie Veränderungen der arktischen Ökosysteme präzise dokumentieren“, sagt Heath. Alle Daten gehören den Inuit-Gemeinschaften selbst.

Künftig soll auch der Kanadische Eisdienst, eine Abteilung des Meteorologischen Dienstes im Umweltministerium, Messdaten aus Siku erhalten, um kurz- und langfristige Trends zu erfassen. Zum Beispiel hatten ältere Inuit festgestellt, dass Robben statt Fisch vermehrt Shrimps fressen.

(bsc)