Missing Link: Auschwitz, die Befreiung

Am 27. Januar 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee rund 7000 Menschen aus dem Vernichtungslager Auschwitz. Eine Art Bestandsaufnahme, nach 75 Jahren.

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Missing Link: Auschwitz, die Befreiung

Selektion an der Bahn-Rampe in Auschwitz-Birkenau (1944).

(Bild: Everett Historical / Shutterstock)

Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Sing! und erheb die Stimme, sing mit Schmerz und Wut
Such! such da oben, ob es ihn noch gibt und seine Welt sich dreht
Sing ihm hoch oben seines letzten Jidden letztes Lied. Der Jud
Gelebt, krepiert und ohne Grab vom Wind verweht.


Sing dennoch! Hebe blind zum Himmel auf dein' Blick
Als gäbs ein' Gott da oben, wink ihm, wink
Als käm uns noch von dort und leuchtete das Glück
Hock auf Ruinen deines Volkes, das ausgerottet ist und sing!


Jizchak Katzenelson, gestorben am 1. Mai 1944 in Auschwitz-Birkenau
aus "Das Lied vom ausgemordeten jüdischen Volk"

Zum 75. Mal jährt sich die Befreiung von Auschwitz, von Menschen, die im größten deutschen Vernichtungslager ihrem Tod entgegensahen. Die Soldaten der ukrainischen Front befreiten ungefähr 8000 Menschen, die in den drei Hauptlagern von Auschwitz, im Stammlager Auschwitz, im Arbeitslager Auschwitz-Monowitz und im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau von ihren deutschen Peinigern zurückgelassen worden waren.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

In Auschwitz-Birkenau, symbolisiert durch die Eisenbahngleise, wurde die industrielle Vernichtung der Juden aus ganz Europa betrieben und fortlaufend perfektioniert. Unter all den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten steht Auschwitz-Birkenau als Symbol für den Holocaust, die Shoa oder den Dritten Churban. In Auschwitz wurden 1,3 Millionen Frauen, Kinder und Männer vergast und dann verbrannt. Die Todesfabrik arbeitete mit fünf Krematorien 24 Stunden am Tag und kam in den Krematorien II und III auf eine Tagesleistung von 1440 Leichen, in den Krematorien IV und V auf 768 Leichen. Die Gaskammern hatten dabei eine weit höhere Kapazität und konnten 3000 Menschen töten. "Die Möglichkeiten der Vernichtung hatten auch in Auschwitz ihre Grenzen", bedauerte Lagerkommandant Rudolf Höß später. An "ruhigen" Tagen, worunter Eisenbahntransporte mit weniger als 500 Menschen fielen, ließ er sie mit Kleinkalibergewehren erschießen, um das Zyklon B zu sparen, das mit den Wagen des "Roten Kreuzes" angeliefert wurde.

Liest man den für die SS-Führer bestimmten Franke-Griksch-Bericht über Auschwitz, so ging es nach der Selektion der in Viehwaggons eintreffenden Menschen auf der "Rampe" ruhig und friedvoll zu. Der Weg führt zunächst hinunter in einen hellen, gut ausgeleuchteten Entkleidungsraum, ehe es weiter zu den Duschen geht. "Um jegliche Panik und jede Unruhe zu vermeiden, werden sie angewiesen, ihre Kleider schön zu ordnen und unter die für sie bestimmten Nummern zu legen, damit sie nach dem Bad auch ihre Sachen wiederfinden. Es geht alles in völliger Ruhe vor sich. Dann durchschreitet man einen kleinen Flur und gelangt in einen grossen Kellerraum, der einem Brausebad ähnelt. In diesem Raum befinden sich drei grosse Säulen. In diese kann man – von oben ausserhalb des Kellerraumes – gewisse Mittel herablassen. Nachdem 300 - 400 Menschen in diesem Raum versammelt sind, werden die Türen geschlossen und von oben herab die Behälter mit den Stoffen in die Räume gelässen [sic]. Sowie diese Behälter den Boden der Säule berühren, entwickeln sie bestimmte Stoffe, die in einer Minute die Menschen einschläfern. Einige Minuten später öffnet sich an der anderen Seite eine Tür, die zu einem Fahrstuhl führt. Die Haare der Leichen werden geschnitt[en] und von besonderen Fachleuten (Juden) die Zähne ausgebrochen (Goldzähne). Man hat die Erfahrung gemacht, das[s] die Juden in hohlen Zähnen Schmuckstücke, Gold, Platin usw. versteckt halten. Danach werden die Leichen in Fahrstühle verladen und kommen in den 1. Stock. Dort befinden sich 10 grosse Krematoriumsöfen, in welchen die Leichen verbrannt werden. (Da frische Leichen besonders gut brennen, braucht man für den Gesamtvorgang nur 1/2 bis 1 Ztr. Koks.) Die Arbeit selbst wird von Judenhäftlingen verrichtet, die dieses Lager nie wieder verlassen."

Die Häftlinge, die die schlimmste Arbeit verrichten mussten, gehörten zum Sonderkommando, einer 800 Mann starken Truppe überwiegend jüdischer Häftlinge. Einer von ihnen, Salmen Gradowski, schrieb vor seiner eigenen Ermordung den Text "Im Herzen der Hölle", den er auf dem Gelände in der Nähe der Krematorien versteckte: "Der Lift fährt hoch und fährt runter, er bringt immer neue Opfer. Wie im Schlachthaus liegt ein Haufen von Menschen da, in Erwartung, dass jemand sie nimmt. 30 Öfen, 30 Höllenschlünde brennen in zwei großen Gebäuden. Unzählige Opfer verschwinden darin. Lange wird das nicht dauern. Bald schon werden alle 5000 Menschen in Asche verwandelt sein. Das Feuer im Ofen dröhnt, wie eine Sturmwelle. Die Mörder, die Barbaren haben es entfacht, in der Hoffnung, mit seinem Licht die Finsternis ihrer schrecklichen Welt vertreiben zu können. Das Feuer brennt beständig, niemand unternimmt den Versuch, es zu löschen. Immer neue Opfer werden dem unablässig zugeführt, als ob unser uraltes Märtyrervolk eigens dafür geboren wurde. Oh, du große freie Welt! Wirst du diese Flamme jemals sehen? Haltet inne, ihr Menschen, schaut auf zum tiefblauen Himmel, der von Flammen verdeckt ist. Du, freier Mensch, sollst es wissen: Dies ist ein Höllenfeuer, in dem Menschen verbrennen! Vielleicht bleibt dein Herz nicht länger hart? Vielleicht kommst du hierhin und löschst diesen Brand? Und vielleicht bringst du den Mut auf, die Opfer und Henker zu vertauschen, und diejenigen ins Feuer zu schicken, die den Brand entfacht haben?" Salmen Gradowski starb im Oktober 1944 bei einem Aufstand des Sonderkommandos, bei dem es immerhin gelang, das Krematorium IV teilweise zu zerstören.

Dreieinhalb Jahre verrichteten die Hochleistungsöfen der Firma Topf und Söhne ihr Werk und die Welt sah die Präzisionsarbeit, wie die Luftaufnahmen zeigen. Spätestens mit der beginnenden "Liquidierung" des Warschauer Ghettos im Juli 1942 war der Vernichtungsfeldzug bekannt, dem allein in Polen insgesamt 3,4 Millionen Juden zum Opfer fielen. Hinzu kamen die Berichte des polnischen Widerstandskämpfers Witold Pilecki, der sich freiwillig nach Auschwitz begab und dort 1942 verbrachte, um den polnischen Widerstand im Namen der Armia Krajova (AK) zu organisieren. Details über die industrialisierte Tötung wurden nach der erfolgreichen Flucht der slowakischen Juden Rudolf Vbra und Alfréd Wetzler im April 1944 mit dem sogenannte Wetzler-Bericht bekannt, in dem erstmals eine zahlenmäßige Schätzung des tagtäglichen Massenmordes bekannt wurde. Trotz aller Informationen wurde entschieden, zwar den Industriekomplex der IG-Farben in Auschwitz-Monowitz von Bombern angreifen zu lassen, nicht jedoch das Vernichtungslager Birkenau zu bombardieren. Bestenfalls hätte man die Eisenbahnschienen treffen können, ein schnell zu reparierendes Angriffsziel. Ein vergleichbarer Versuch kurz vor der Landung der Alliierten in der Normandie war die nicht sonderlich erfolgreiche Operation Jericho.

Die Befreiung der Insassen und der Stopp der Todesfabrik musste also auf dem Landweg durch die Rote Armee erfolgen. Salmen Gradowski vom Sonderkommando berichtete in seinem Kassiber, wie eines Tages eine Frau nach der Entkleidung auf die SS-Leute zugeht und sie direkt anspricht: "Mit unserem Blut wollt ihr eure Niederlagen an der Front verdecken. Es ist schon klar, dass ihr den Krieg verliert. Jeden Tag erleidet ihr Niederlagen an der Ostfront. Jetzt könnt ihr treiben, was euch beliebt, nur wird auch für euch der Tag der Abrechnung kommen. Die Russen werden uns rächen! Sie werden euch bei lebendigem Leib in Stücke reißen. Unsere Brüder in der ganzen Welt werden euch eure Verbrechen nicht verzeihen. Sie werden unser unschuldig vergossenes Blut rächen!"