Kommentar zur Infodemie: Lockdown gegen Fake News

Über die sozialen Medien verbreiten sich gefährliche Falschinformationen zur Coronavirus-Pandemie – mangels Lockdown für Facebook & Co.

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Kommentar zur Infodemie: Lockdown gegen Fake News

(Bild: dpa / Arne Dedert)

Lesezeit: 5 Min.

Seit dieser Woche ist das öffentliche Leben in Deutschland massiv eingeschränkt. Einzelhandelsgeschäfte, Theater, Museen, Sporteinrichtungen, Kneipen und Diskotheken sind geschlossen, wir sollen nicht verreisen und vor allem unsere sozialen Kontakte auf ein äußerstes Minimum einschränken, daher sitze ich wie viele andere im Homeoffice. Da fragt jemand in einer meiner größeren Whatsapp-Gruppen, er wolle sein soziales Leben nicht total einschränken, ob wir uns mal wenigstens im kleinen Kreis treffen wollen. Ich werfe ein, in der derzeitigen Lage und laut den Informationen von Wissenschaftlern sollten wir das besser lassen, worauf ich zur Antwort bekomme, auf Facebook und woanders würden sehr unterschiedliche Ansichten von diversen Wissenschaftlern ausgebreitet.

Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hat es eine derartige Situation gegeben, in der das Wohlergehen aller Menschen so sehr davon abhängt, dass sie möglichst schnell, korrekt und ausführlich darüber informiert sind, wie sie am besten handeln. Wenn wir uns nicht an die Empfehlungen halten, kann es passieren, dass wir in zwei bis drei Monaten in Deutschland 10 Millionen Infizierte haben, das Gesundheitssystem könnte überlastet werden, warnt das Robert-Koch-Institut.

Andreas Wilkens

kommt aus den Kulturwissenschaften, wurde frühzeitig in seinem Studium mit Computern konfrontiert – als Arbeitsmittel und Verdienstmöglichkeit. Er kümmert sich im Newsroom von heise online um die Nachrichten aus der IT-Welt.

Wer das nicht weiß oder wer die Informationen und Empfehlungen der Behörden und Wissenschaftler in Zweifel zieht oder einfach ignoriert, setzt seine Gesundheit aufs Spiel, vor allem das Leben anderer Menschen, jener, für die Covid-19 einen schweren Verlauf nehmen kann: Ältere, Raucher und Menschen mit Vorerkrankungen an der Lunge, dem Herzen oder anderen Organen. Wenn die bisher von der Bundesregierung herausgegebenen Vorschriften und Empfehlungen nicht ausreichend greifen, kann es zu einer Ausgangssperre kommen.

Vor diesem Hintergrund und auch, weil ich in den Tagen vorher schon einige Kettenbriefe bekommen hatte, in denen mich die "Mutter von Poldi" in einer Sprachnachricht über Ibuprofen-Gerüchte belästigte; in denen geschrieben stand, "wie die Menschen in Kanada informiert werden" oder in denen Empfehlungen "aus Belgien vom französischen Gesundheitsminister" weitergereicht wurden oder dass Aldi seine Läden schließt und Zwiebeln gegen Coronahusten hülfen, reagierte ich gegenüber der Whatsapp-Gruppe ungehalten. Ich schrieb dort hinein, soziale Medien seien in erster Linie Quatschschleudern, die ohnehin und jetzt erst recht ignoriert werden sollten.

Auf den Vorwurf aus der Gruppe, ich müsse nicht so unwirsch und unhöflich reagieren, schrieb ich, es sei nicht nur unhöflich den Wissenschaftlern gegenüber, sondern auch allgemein lebensgefährlich, deren Erkenntnisse aufgrund von Hörensagen aus äußerst dubiosen oder nicht genannten Quellen in Zweifel zu ziehen und Extrawürste zu braten. Egal wie wir politisch eingestellt sind, zurzeit müssen wir die Kompetenz der Wissenschaftler respektieren und den Entscheidungen der Politiker vertrauen.

Ja, wir befinden uns in einer "dynamischen Situation", jeden Tag werden neue Erkenntnisse über das Coronavirus und dessen Verbreitung gewonnen und veröffentlicht und alte über Bord geworfen. Daraus resultiert große Verunsicherung, dagegen hilft Vertrauen. Zweifel aber unterhöhlt Vertrauen, mangelndes Vertrauen befördert Angst. Und "Angst macht anfälliger für Falschnachrichten – auch bei Leuten, die sonst keinen Fake News glauben", sagt die Journalismus-Professorin Katarina Bader. Das kann gut sein, denn die Kettenbriefe und schwammigen Einwände gegen "die Wissenschaftler" kamen allesamt von Menschen zu mir, denen ich vorher wesentlich mehr Medienkompetenz zugetraut hatte.

Ich gehe davon aus, dass mich nur ein klitzekleiner Ausschnitt aus der Flut an Verschwörungstheorien, Gerüchten und Falschinformationen erreicht hat, die auf Facebook und anderen Plattformen wuchern. "Wir kämpfen nicht nur gegen eine Epidemie, sondern auch gegen eine Infodemie. Fake News verbreiten sich schneller und einfacher als dieses Virus, und sie sind genauso gefährlich", sagte schon Mitte Februar WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus.

Und hier kommen die Betreiber der Kanäle ins Spiel, über die Fake News transportiert werden. Da die Menschen nun daheim reichlich viel Zeit totzuschlagen haben, werden viele von ihnen vermutlich öfter und länger an ihren Computern, Tablets und Smartphones sitzen als sonst und sich dort unter ihrer Käseglocke das eine oder andere Gerücht einfangen und womöglich weiterverbreiten. Facebook, Google, YouTube, Twitter, Reddit, Microsoft und LinkedIn haben das anscheinend endlich erkannt und diese Woche – einen Monat nach Ghebreyesus' Klage – bekannt gegeben, gemeinsam gegen die Verbreitung von Falschnachrichten und Betrugsversuchen im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie vorgehen zu wollen.

Im Zusammenhang mit Facebooks bisheriger Faktenprüferei schrieb ich Ende vorigen Jahres: "Das könnte ein nachmaliges Eingeständnis des 'Social Networks' dessen sein, dass sich unter seinen Milliarden Accountbesitzern nicht wenige befinden, die aus welchen Gründen auch immer nicht selbstständig denken. Sie nehmen anscheinend alles für bare Münze, was auf Facebook gepostet wird." Davon rücke ich nicht ab, zumal sich Unwissen und kolportierter Unsinn nun schon längst unter anderem in gehamsterten Nudeln, Mehlpackungen und Klopapierrollen manifestieren. Aus Krankenhäusern werden Desinfektionsmittel und Atemmasken gestohlen.

Angesichts dessen ist es vielleicht an der Zeit, über den Stillstand des öffentlichen Lebens in der Coronavirus-Krise hinaus darüber nachzudenken, ob es auch für soziale Medien ein Lockdown geben sollte. Warum sollten Einzelhandelsgeschäfte, Theater, Museen, Kneipen, Diskotheken und Sporteinrichtungen schließen und ihre Besitzer, Betreiber und Mitarbeiter darben, während Facebook, Google, YouTube, Twitter, Reddit, Microsoft und LinkedIn weiter florieren und Fake News verbreiten können, die nach Meinung des WHO-Chefs genauso gefährlich sind wie dieses Virus?

(anw)