Modell zur Corona-Krise: Schrecken ohne Ende oder Ende mit Schrecken?

Francois Balloux ist Epidemiologe, der an einem einflussreichen Computermodell der Pandemie gearbeitet hat. Im Interview erläutert er es.

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Modell zur Corona-Krise: Schrecken ohne Ende oder Ende mit Schrecken?

(Bild: Photo by Martin Sanchez on Unsplash)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Douglas Heaven

Welche Strategie ist im Kampf gegen das Coronavirus am besten? Ein neues Modell, dass am Imperial College London entstanden ist, zeigt die möglichen Auswirkungen zweier unterschiedlicher Strategien gegen die Pandemie: Entweder die Akzeptanz kurzfristig hoher Todeszahlen oder eine möglichst starke Isolierung der Menschen, um diese zu verhindern.

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Das Modell beeinflusst die Politik in den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Francois Balloux, ein Epidemiologe, der sich auf die Erstellung von Pandemievorhersagen spezialisiert hat, arbeitete mit den Forschern am Imperial College London zusammen, um es zu erstellen; er selbst ist am University College London tätig. Im Gespräch mit Technology Review erläutert er die Ergebnisse. Gut sind sie nicht.

Technology Review: Ein Modell ist nur so gut wie die Daten, die man in es einspeist. Von welchen Voraussetzungen geht Ihr Modell aus?

Francois Balloux: Ich denke, das Modell ist ziemlich hochentwickelt. Es ist detailliert und realistisch, doch es gibt natürlich viele, viele Annahmen – und einige davon sind nicht superexplizit. Geht man einmal von Schätzungen aus, denke ich aber, dass es richtig liegt. Es gibt zudem keine konkreten Zahlen aus, sondern nur einen Zahlenkorridor. So viele Leute brauchen wohl Intensivmedizin. So viele werden wohl sterben. Doch die Nummern sind groß, egal was passiert. Der Bericht ist keine schöne Lektüre, obwohl die Szenarien im Grunde ziemlich optimistisch sind.

TR: Auf welche Art sind sie das?

Balloux: Es gibt ein paar wichtige Variablen, die nicht eingebaut wurden. Beispielsweise gibt es die Annahme, dass jemand, der einmal infiziert war, sein Leben lang immun bleibt. Doch das ist etwas, was wir nicht unbedingt wissen. Wir wissen nicht, wie lange die Leute immun bleiben, nachdem sie sich erholt haben – ob sie die Krankheit zweimal kriegen können und wenn ja, nach wie vielen Monaten. Das würde das Endergebnis des Modells ziemlich verändern und zwar nicht zum Besseren.

TR: Die Modelle enthalten außerdem Annahmen zum Verhalten der Menschen. Wie funktioniert das?

Balloux: Das Social Distancing wurde über eine reduzierte Übertragungsrate in das Modell aufgenommen. Man geht davon aus, dass Leute, die weniger eng aufeinander hocken, sich seltener anstecken. Natürlich geht man davon aus, dass Social Distancing oder die Isolierung tatsächlich effektiv umgesetzt wird. Wenn man sich die Zahlen ansieht, zeigen sie aber nicht, dass es ein absolutes Kontaktverbot geben muss. Sie sagen nur, dass der Kontakt um Betrag x oder y verringert werden müsste.

TR: Ihr Modell geht also davon aus, dass eine bestimmte Prozentzahl der Menschen den offiziellen Ratschlägen folgt. Doch wir wissen nicht, was die Leute machen werden. Wir können ihnen raten, nicht nach draußen in die Cafés zu gehen, sich nicht an ihre Arbeitsplätze zu begeben, es ist aber schwer, diese Regeln durchzusetzen. Woher wissen Sie also, dass diese Annahmen korrekt sind?

Balloux: Das stimmt nicht unbedingt. Natürlich kann man den Leuten raten, sich nicht nach draußen zu begeben und die Leute können dann auf diesen Rat hören oder nicht. Es wird viel damit zu tun haben, wie die Nachricht übermittelt wird und ob die Leute wirklich Angst um ihre eigene Gesundheit haben. Es ist extrem – insbesondere in westlichen Demokratien –, wenn wir den Leuten riesige Strafzahlungen androhen, damit sie nicht nach draußen gehen oder zu Treffen über einer bestimmten Größe.

Ich bin kein Psychologe, glaube aber, dass die Leute von sich aus mitziehen. Ich mache mir hier keine großen Sorgen. Vor zwei Wochen war das anders, als die Leute noch sagen: "Oh, das ist nur wie die Grippe." Doch nun wird es ernst und die Einstellungen ändern sich ziemlich schnell. Die Leute machen sich sorgen und wenn sie das tun, hören sie auf den Rat.

Jedenfalls ist die Annahme, dass man sich nicht mehr als einmal infizieren kann, viel wichtiger als die Genauigkeit des Modells, was die Haltung der Menschen zum Social Distancing und der Isolierung anbetrifft.

TR: Das Modell scheint davon auszugehen, dass die Anzahl der Intensivbetten nicht zunimmt. Warum gibt es nicht mehr?

Balloux: In Großbritannien gibt es ungefähr 4000 Intensivbetten, von denen 80 Prozent besetzt sind. Es gibt 100.000 normale Krankenhausbetten und einige von diesen könnten umgebaut werden, um Intensivbetten zu werden. Doch es geht nicht nur um die Betten. Man braucht Geräte inklusive Beatmung – und zwar sehr, sehr schnell –, doch selbst wenn es möglich ist, zusätzliche Intensivbetten zu schaffen, ist das ja nur ein gelöstes Problem. Man braucht auch noch Manpower. Intensivmediziner und Pflegepersonal benötigen eine gute Ausbildung, das kann nicht jeder.

TR: Die britische Regierung hat ihre Strategie verändert und will das Virus nun nicht mehr nur unterdrücken. Empfiehlt Ihr Modell das auch?

Balloux: Die reine Unterdrückung hätte einen großen Nachteil: Es würde in den ersten paar Monaten viele Tote geben. Doch das muss nicht unbedingt die schlechtere Strategie sein, das haben viele Menschen nicht verstanden. Es gibt schlimme kurzfristige Konsequenzen, inklusive vieler Tote, besonders unter Älteren. Aber die andere Option, Leute weitgehend sozial zu isolieren, bis ein Impfstoff gefunden ist, der funktioniert (was noch nicht klar ist), setzt enorme Restriktionen voraus. Es gibt einfach keine simple Lösung. Und wir dürfen auch die Wirtschaft nicht vergessen, die durch jede Langzeitstrategie beeinflusst wird. Wenn es zu einer massiven Krise kommt, hat das auch starke Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen.

TR: Das heißt, es gibt zwei Strategien. Bei der einen spielt man mit dem Leben der Menschen, weil viele kurzfristig sterben werden. Bei der anderen spielt man mit einer unbekannten Zukunft, bei der Menschen über einen längeren Zeitraum sterben werden.

Balloux: Grundsätzlich ist das so, ja. Hätten wir es mit einem Krieg zu tun, würde man akzeptieren, dass der Verlust vieler Menschen in der ersten Schlacht es wert wäre, weil der Krieg dann schneller endet. Doch es ist wichtig, dass unser Modell nicht sagt, was besser ist. Egal was man tut, es ist eine Wahl. Wenn man sich beide Möglichkeiten anschaut und guckt, wie sich beide über ein oder zwei Jahre entwickeln könnten, komme ich selbst zu keiner Antwort. Also zumindest aus wissenschaftlicher Perspektive.

Hinzu kommen ethische und politische Perspektiven, inklusive einer vollständigen Verweigerung, eine dramatische Zahl Toter kurzfristig zu akzeptieren. Aber das Modell selbst sagt uns nicht, was die richtige Option ist, selbst wenn man herausfinden will, welche Strategie mehr Leben schützt. Ich frage mich nämlich auch, wie akzeptabel Social Distancing in der Bevölkerung ist. Aber missverstehen Sie mich auch nicht: Ich habe selbst keine Antwort. Das ist eine sehr große Herausforderung, mit der wir es zu tun haben.

(bsc)