Von Visionen und Illusionen

Ob Steuerung von Prothesen oder Auslesen von Gedanken: Elon Musk, Facebook und die US-Militärforschungsbehörde hoffen auf neue Computer-Hirn-Schnittstellen.

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Von Visionen und Illusionen

(Bild: vs148/Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Christian Wolf

Miguel Nicolelis sorgte 2003 weltweit für Schlagzeilen: Der brasilianische Hirnforscher von der Duke University ließ einen Rhesusaffen einen Roboterarm steuern – nur mit der Kraft von Gedanken. Elektroden hatten die Signale im Affenhirn registriert und an einen Steuercomputer weitergeleitet. Damals schien es nur eine Frage der Zeit, bis Menschen mit schweren Lähmungen mittels solcher Computer-Hirn-Schnittstellen (BCI) Prothesen und Rollstühle würden steuern können. Zudem haben in den letzten Jahren Tech-Unternehmen aus dem Silicon Valley wie Facebook die Technologie für sich entdeckt. Mit der Verschmelzung von Gehirn und Computer sollen User etwa allein über Gedanken ihr Smartphone steuern können.

Doch wie weit ist die Technik heute wirklich? „In der Grundlagenforschung gab es bei BCI-Geräten in den letzten 15 Jahren durchaus Fortschritte“, sagt Philipp Kellmeyer, Neurologe am Universitätsklinikum Freiburg und BCI-Spezialist. „So etwa wurde die Decodierung von Gehirnsignalen stetig genauer.“ Erst kürzlich berichteten Forscher um den Neurochirurgen Alim Louis Benabid von der University of Grenoble von einem Exoskelett, durch das ein querschnittsgelähmter Patient erstmals über Gedanken alle vier Gliedmaßen steuern konnte. Die Wissenschaftler haben dem Mann dazu Elektroden unter die Schädeldecke implantiert – aber nicht ins Gehirn. Der Eingriff ist weniger invasiv, und doch sind die Signale wesentlich klarer als bei einem EEG. Wenn der Patient sich darauf fokussiert, eines der gelähmten Beine zu bewegen, zeichnen die Elektroden die Hirnströme in den Bereichen des Gehirns auf, die Empfindung und Motorik steuern. In Tierversuchen ließen sich sogar nur über Stimulation des Rückenmarks Gehbewegungen auslösen.

„Solche BCI-Geräte kommen aber nicht im Alltag der Patienten an“, sagt Kellmeyer. Man benötige ein sehr komplexes Zusammenspiel elektronischer Geräte: die Elektroden zum Messen der Hirnaktivität, eine Recheneinheit, die sie interpretiert, und dann noch die zu steuernden Prothesen. „Kaum eine Firma ist in allen drei Bereichen kompetent oder bereit, die Komponenten zusammenzuführen und als ein Gerät zu vermarkten.“ Denn die Gruppe der Patienten, die wirklich von BCI profitieren, ist sehr klein. Es sind schwer gelähmte Menschen wie Locked-in-Patienten – geistig hellwach, aber infolge eines Schlaganfalls oder der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) in ihrem gelähmten Körper regelrecht eingeschlossen. Wer hingegen „nur“ vom Hals ab gelähmt ist, kann etwa durch Mundbewegungen Geräte besser steuern und benötigt kein BCI. Außerdem wäre der chirurgische Eingriff im Vergleich zum Nutzen zu riskant. Es fehlen also schlichtweg die ökonomischen Anreize.

Ganz anders stellt sich das dar bei BCI-Geräten als Lifestyle-Produkte, etwa um per EEG Tastaturen zu steuern. Sie greifen die Signale nicht-invasiv per Elektrodenhaube außen am Kopf ab. Zwei Innovationen trieben die Entwicklung voran: Trockenelektroden, die man leicht wie eine Haube überstülpen kann, sowie die immer bessere Decodierung von Hirnaktivitäten durch maschinelle Lernverfahren.

TR 3/2020

Aber auch hier fliegen die Pläne noch der Realität davon. Die Millionen, die seit einiger Zeit vom Silicon Valley in die Entwicklung von BCI-Technologien fließen, täuschen über eines hinweg: Die IT-Unternehmen geizen bislang mit wissenschaftlich nachvollziehbaren Ergebnissen. „Facebook kauft Start-up, das Gedanken lesen will“, so oder ähnlich lauteten 2019 die Schlagzeilen in den Medien. Die Wirklichkeit indes hat mit „Gedankenlesen“ ziemlich wenig zu tun. Die von Facebook übernommene Firma CTRL-labs in New York setzt wegen dessen Komplexität nicht am Gehirn an, sondern an der Peripherie des Nervensystems: Elektroden eines Armbands registrieren die Bewegungssignale von motorischen Neuronen des Rückenmarks an die Muskelfasern. Eine Software interpretiert die motorischen Befehle des Users und schreibt so einen Text.

Dabei sind beim Gedankenlesen durchaus Fortschritte zu verzeichnen. Mit Buchstabierprogrammen können Locked-in-Patienten mittlerweile Gedanken Buchstabe für Buchstabe übermitteln. Dazu tragen sie eine Kappe mit Elektroden auf dem Kopf. „Sie schaffen damit zehn bis zwölf Anschläge pro Minute, was für BCI schnell ist“, sagt die Biologin und Psychologin Andrea Kübler von der Uni Würzburg. Zumindest bei einer Patientin ist ein von Utrechter Forschern entwickeltes Buchstabierprogramm im Alltag angekommen, wenn auch über implantierte Elektroden gesteuert. Die Frau nutzt es seit über drei Jahren als primäres Kommunikationsmittel.

Selbst ganze Sätze „auszulesen“ gelingt bereits in Ansätzen. Mehrere Forscherteams haben bei Epileptikern, die zur Ortung der Anfälle implantierte Elektroden trugen, gesprochene Sätze rein aus deren Hirnaktivitäten ausgelesen und in akustisch verständliche Sprache umgewandelt. Die Probanden mussten das System jedoch auf ihr persönliches Muster der Sprachverarbeitung trainieren. Ob das auch bei Locked-in-Patienten funktioniert, die ja selbst nicht sprechen können, ist noch offen.

(bsc)