Load Balancing für Straßen

Als erstes Bundesland bekommt Niedersachsen direkten Einfluss auf das Routing eines Navigationssystems. Das soll Staus und Verkehrschaos vermeiden helfen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 67 Kommentare lesen

(Bild: Photo by Jacek Dylag on Unsplash)

Lesezeit: 5 Min.

Soll man im Stau auf der Autobahn bleiben oder abfahren? Gefühlt ist es, wie man es auch macht, falsch. Klassische Navigationssysteme sind hier keine große Hilfe. Empfehlen sie eine Umleitung, ist bald ebenfalls verstopft – während die Autobahn womöglich längst wieder frei ist. "Der Stau oszilliert – er schwappt zwischen Haupt- und Ausweichstrecke hin und her", sagt Alexander Meister, Experte für Verkehrslenkung beim Hannoveraner Start-up Graphmasters. Es hat eine Navigationssoftware entwickelt, die den Verkehr besser verteilen soll. Sie basiert auf "kollaborativem" Routing: Alle Nutzer bekommen individuelle Empfehlungen, damit die verfügbaren Straßen optimal ausgenutzt werden.

Als Maßstab dafür, wie viel Verkehr eine Straße maximal zugeteilt bekommt, dient die Höchstgeschwindigkeit. Tempo-30-Zonen und Spielstraßen bekommen also entsprechend weniger ab. Dies soll verhindern, dass Ausweichverkehr in die umliegenden Wohnviertel einfällt. Die Echtzeit-Verkehrsdaten dazu – nach Angaben des Unternehmens rund 1,5 Millionen Verkehrsmessungen pro Minute – kommen unter anderem aus der eigenen App namens Nunav, werden aber auch von Telematik-Dienstleistern hinzugekauft.

Mit der Idee des kollaborativem Routing gewann Graphmasters – damals noch unter dem Namen "Greenway" – 2012 den "Microsoft Imagine Cup". Mit den gewonnen 100.000 Dollar Startkapital entwickelte das Start-up zunächst Routing-Software für Logistikunternehmen und Paketdienste. Mittlerweile werde "Deutschland jedes dritte Paket mit unserer Software ausgeliefert – etwa durch Hermes", sagt Meister. "Bei der Österreichischen Post kommen wir mittlerweile flächendeckend zum Einsatz". Nach Angaben von Graphmasters spart die Software durch effizienteres Routing mehr als 7000 Tonnen Kohlendioxid im Jahr.

2016 kam ein neues Standbein hinzu: Großveranstaltungen wie Konzerte und Messen. Veranstalter können dann einen QR-Code auf ihre Tickets drucken, mit dem sich Besucher die Nunav-App herunterladen können. Dann können sie auf genau definierten Routen zu den vorgesehenen Parkplätzen geführt werden, ohne sich mehr als nötig in die Quere zu kommen.

Doch wie verbreitet muss die App sein, um sich spürbar auf den Verkehr auszuwirken? "Natürlich lädt nicht jeder Besucher unsere App herunter", sagt Meister. "Die Forschung sagt aber, dass eine Verbreitung von 1 Prozent bereits eine Verbesserung von 15 Prozent für den Verkehrsfluss bringt. Und unsere eigene Erfahrung und die der Polizei sagt, dass 3 bis 5 Prozent Durchdringung etwa 20 Prozent Verbesserung entsprechen."

Auf Konzerten von Helene Fischer, Andreas Gabalier, Rammstein und Eminem mit jeweils fünfstelligen Besucherzahlen seien bis zu ein Viertel der Besucher mit der Nunav-App angereist. Größeres Verkehrschaos blieb aus. Wie hoch die Durchdringung derzeit im Alltag derzeit ist, lässt aber schwer beziffern, gesteht Meister. Die valideste Zahl sei die der regelmäßigen Routenanfragen – derzeit rund 24.000 Routen pro Minute.

Seit Mitte Januar hat auch die Verkehrsmanagementzentrale Niedersachsen (VMZ) direkten Einfluss auf die Routing-Empfehlungen. Sie kann damit Autoströme beispielsweise großräumig um Baustellen herumführen, ihn aus Wohngebieten heraushalten oder die An- und Abfahrt zu Messen koordinieren. Und wenn Park-and-Ride-Parkplätze als Ziele hinterlegt sind, lässt sich auch der Öffentliche Nahverkehr einbinden. So geschehen am 30. November 2019, als Busse und Bahnen in Hannover gratis benutzt werden durften.

Wer sich Nunav anvertraut, muss allerdings auch damit rechnen, über Umwege geführt zu werden – gegen das Versprechen, insgesamt weniger Zeit zu brauchen. Ein stichprobenartiger Vergleich mit Google Maps zeigt, dass dies durchaus der Fall sein kann. So routete Google am 14. Januar Autofahrer von Kassel nach Hannover direkt über die A7 – trotz eines großen Staus bei Northeim (insgesamt 165 Kilometer, 2:31 Stunden). Die Webseite der Verkehrsmanagementzentrale Niedersachsen hingegen, die den Graphmasters-Algorithmus nutzt, schlägt eine Umgehung des Staus vor – und spart dadurch (zumindest in der Berechnung) mehr als eine halbe Stunde (168 km, 1:58 Stunden).

Graphmasters, das mittlerweile 52 Mitarbeiter zählt, verdient sein Geld vor allem mit seiner kostenpflichtigen App "Nunav Courier" für die Logistik. (Die Nunav-App für Privatnutzer ist kostenlos.) Dazu kommen Einnahmen von den Organisatoren von Großveranstaltungen. Ein weiteres Standbein sind Dienste für Verkehrsmanagementzentralen. Das Land Niedersachsen etwa zahlt dafür 180.000 Euro für drei Jahre. Meister hofft, dass künftig noch weitere Bundesländer einsteigen. Eine weitere Einnahmequelle ist die Lizensierung des Routings für die Navigationssoftware Dritter. "Pathfinder" von Volkswagen Nutzfahrzeuge etwa ist bereits ab Werk damit ausgestattet. Weitere Hersteller sind lauter Meister im Gespräch, er dürfe deren Namen allerdings noch nicht nennen. (grh)