Inzidenzzahl: "Der Wunsch nach einer No-Covid-Strategie ist realitätsfern"

Nicoletta Wischnewski, Sprecherin der Berliner Amtsärzte, fordert zusammen mit ihren Kollegen, bei der Corona-Strategie umzudenken und mehr Daten einzubeziehen.

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(Bild: Ashkan Forouzani / Unsplash)

Lesezeit: 6 Min.

Wischnewski ist Fachärztin für Hygiene, Umwelt- und Allgemeinmedizin sowie öffentliches Gesundheitswesen. Sie leitet das Gesundheitsamt Charlottenburg-Wilmersdorf in Berlin. Im Interview mit Technology Review spricht sie über die aktuelle COVID-19-Lage und den Umgang mit den vorhandenen Daten.

Technology Review: Sie und Ihre amtsärztlichen Kollegen fordern den Berliner Senat auf, nicht mehr nur stur nach der Gesamtinzidenz über die Bevölkerung zu gehen, sondern nach Gruppen differenziert zu öffnen und zu schließen. Was steckt hinter der Idee?

Nicoletta Wischnewski: Die Inzidenzzahl sagt lediglich, wieviele Personen bezogen auf 100.000 Einwohner infiziert sind, jedoch nicht, ob es sich hierbei um z.B. milde Erkrankungsverläufe handelt oder das Trägertum des Virus bei einer Person ohne Symptome nachgewiesen wurde (Zufallsbefund im Rahmen einer Umgebungsuntersuchung) oder ob es sich um ein schweres Krankheitsbild handelt, dass vielleicht sogar einen Krankenhausaufenthalt mit Intensivstation benötigt.

Unserer Erfahrung nach sind die Krankheitsverläufe unterschiedlich und in der Regel altersabhängig. Im Gesamtblick sind es meist die älteren Menschen, oft mit anderen Vorerkrankungen, die schwerer krank werden als die jüngeren gesunden Menschen; von Ausnahmen abgesehen. Folglich sollte die Inzidenzzahl auch nach dem Schweregrad der Erkrankung in zum Beispiel Altersgruppen bewertet werden. Ziel muss es sein, die vulnerablen Gruppen – also die für schwere Verläufe prädestinierten Gruppen – zu schützen, wie etwa durch die Impfungen.

Der Vorschlag ist nicht unumstritten. Warum kommt er jetzt aus Ihrer Gruppe?

Wir hatten das Thema bereits seit einiger Zeit diskutiert und nun unser fachliches Votum an die Senatsverwaltung für Gesundheit gegeben, um bei der Entscheidungsfindung für weitere Vorgehensweisen fachlich zu unterstützen.

Was entgegnen Sie Kritik, dass spezifische Lockerungen der Gefahr der Situation nicht gerecht werden?

Der Wunsch nach einer "No Covid"-Strategie ist aus unserer Sicht realitätsfern. Wir müssen uns vielmehr, wie mit anderen Infektionserkrankungen auch, mit dem Virus arrangieren und leben lernen.

Als Beispiel möchte ich gern die Viruserkrankung Masern nennen, die ja auch, wenn sie z.B. eine Infektion der Hirnhäute oder der Lunge verursachen, tödlich verlaufen kann. Die Weltgesundheitsorganisation versucht seit Jahren weltweit eine Elimination der Masern. Impfungen gegen dieses Virus gibt es ebenfalls seit Jahren, dennoch ist bis heute das Virus nicht eliminiert, weil es immer irgendwo Lücken geben wird.

Auch COVID-19 ist weltweit ausgebreitet, daher sollte ein Umdenken dahingehend erfolgen, dass geschaut wird, wie vulnerable Gruppen bei Auftreten von Infektionswellen geschützt werden können – und [wir müssen] natürlich die Impfungen voranbringen. Letztlich können sich, um bei dem Beispiel der Masern zu bleiben, diese auch nur dann gut ausbreiten, wenn die Durchimpfung der Bevölkerung gering ist und das Virus auf eine ungeschützte Population trifft.

Die berühmte 50er Inzidenz wurde lange als jener Wert genannt, an dem es den Gesundheitsämtern noch möglich sei, Infektionsketten nachzuverfolgen. Gilt das noch, etwa bei Ihnen in Berlin? Es gibt ja durchaus Ämter, die sagen, sie schaffen es auch mit 200.

Die Zahl ist auch hier nicht das Entscheidende, es sind die damit verbundenen Kontakte, die ein Fall gegebenenfalls hat und die im Rahmen des Containment eingebunden werden müssen. Die Gesundheitsämter sind mittlerweile personell für die Pandemie mit Personal temporär aufgestockt worden, sodass die Bewältigung von Inzidenzzahlen über 50 möglich ist. Auch hier wieder ein Beispiel: Wenn ein "Fall" zirka 5 Kontakte hat, ist eine Inzidenz von 200 + 1000 Kontaktpersonen machbar, haben 200 Fälle zwischen 3-20 Kontakte (z.B. Geburtstagsfeier) liegen wir bei weitaus höheren Kontaktzahlen.

Nun sind wir bei der Inzidenz nicht etwa nach oben gegangen, sondern bei der 35 gelandet. Welche Motivation steht Ihrer Meinung nach dahinter?

Es ist der Wunsch, das Virus in seiner Ausbreitung zu kontrollieren. Die Inzidenz fließt ja in die Berechnung des R-Wertes ein und es besteht vermutlich der Wunsch, die Ansteckungsrate damit klein zu halten.

Halten Sie die No-Covid-Strategie für umsetzbar?

Nein.

Eine anderer noch ungenutzter Datenpunkt ist der CT-Wert, den PCR-Tests von Beginn an liefern, schließlich sind die Verfahren stets auch quantitativ und nicht nur qualitativ. Aktuell sind Menschen nur positiv oder negativ, auf die Virenlast wird nicht geschaut. Muss sich das ändern oder ist dies nicht sinnvoll?

Die Viruslast wird durch die Gesundheitsämter im Rahmen der Einschätzung im Hinblick auf mögliche Infektiosität für das persönliche Umfeld berücksichtigt, bei der Bewertung einer möglichen Ansteckungsfähigkeit. Sie haben recht, dass es sinnvoll wäre, bei der Betrachtung der Inzidenzzahl diese Information mit zu betrachten, weil die Infektiosiät bisher nicht gewertet wird.

Wird sich unsere Reaktionsweise auf pandemische Gefahren geändert haben, wenn SARS-Cov-2 einmal durchgestanden ist? Man könnte ja argumentieren, eine besonders schlimme Grippewelle oder ein anderes neues Virus würde einen Lockdown bedingen. Oder bleibt diese "neue Normalität" ein Sonderfall?

Hier kann ich Ihnen nur meine persönliche Meinung mitteilen. Ich denke, diese Pandemie hat einerseits unsere Lücken im öffentlichen Gesundheitsdienst aufgezeigt und die über die Jahre reduzierte Stellenbesetzung offenbart, andererseits aber auch uns als dritte Säule des Gesundheitssystems mehr ins Licht gerückt. Immerhin ist Deutschland mit seinem Netz an Gesundheitssystem in der Lage gewesen, die Pandemie überschaubar zu halten.

Wir hatten auch in früherer Zeit Pandemiesituationen geprobt, jedoch eine so andauernde Situation nicht berücksichtigt. Daraus haben wir gelernt und ich denke, künftig werden wir schneller personelle Ressourcen hochfahren können. Eine Pandemie wird sich, wenn auch vielleicht in anderen Formen, mit anderen Erregern oder Einflüssen wiederholen können, allein durch den Klimawandel können wir künftig auch mit anderen Infektionserkrankungen in unseren Regionen rechnen.

(bsc)