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Was war. Was wird. Vor der dritten Welle. Von großen Poeten und großen Zeiten.

Manches Geheul erscheint im Nachhinein arg überkandidelt, vor allem, wenn die neuen Giganten unerwünschte Nebenwirkungen mit sich bringen, grummelt Hal Faber.

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Spatz, Freiheit

Was ist Freiheit? Nur die Abwesenheit von Einhegungen? Wohl kaum.

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** And then the famous Flying Fortress took off bristling with guns
and testosterone to make the world safe for peace and capitalism
but the birds of peace were nowhere to be found before or after Hiroshima

And so then clever men built bigger and faster flying machines and
these great man-made birds with jet plumage flew higher than any
real birds and seemed about to fly into the sun and melt their wings
and like Icarus crash to earth

And the Wright brothers were long forgotten in the high-flying
bombers that now began to visit their blessings on various Third
Worlds all the while claiming they were searching for doves of
peace

And they kept flying and flying until they flew right into the 21st
century and then one fine day a Third World struck back and
stormed the great planes and flew them straight into the beating
heart of Skyscraper America where there were no aviaries and no
parliaments of doves and in a blinding flash America became a part
of the scorched earth of the world

And a wind of ashes blows across the land
And for one long moment in eternity
There is chaos and despair

And buried loves and voices
Cries and whispers
Fill the air
Everywhere

Lawrence Ferlinghetti, History of the Airplane

*** So ein Gedicht konnte nur einer über den 11. September schreiben. Lawrence Ferlinghetti, 1919 als Lawrence Ferling in den USA geboren, in Frankreich und Amerika aufgewachsen, im II. Weltkrieg als Kommandant eines U-Jagdbootes an der Landung in der Normandie beteiligt. Später wurde Ferlinghetti mit seinem Schiff im Pazifik eingesetzt. Er erlebte die Wirkung der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki direkt vor Ort und wurde zum überzeugten Pazifisten. Er studierte dank dem GI Bill in den USA und Frankreich Literatur und übersetzte die Gedichte von Jacques Prévert ins Amerikanische. Die Gedichte waren das erste Buch, das Ferlinghetti herausgab, als er 1951 nach San Francisco kam und dort bald den City Lights Bookstore & Publisher eröffnete. Der Laden wurde 1956 mit dem Geheul von Allen Ginsberg bekannt, das bereits gewürdigt wurde. Lawrence Ferlinghetti wurde 1957 angeklagt, ein obszönes Werk herausgebracht zu haben und gewann in einem aufsehenerregenden Prozess, in dem heftig über die Redefreiheit und die künstlerische Darstellungsfreiheit diskutiert wurde. Nach diesem Prozess konnten die indizierten Bücher von Burroughs, Nabokov und anderen erscheinen. Ferlingheitti eigenes Hauptwerk, A Coney Island of the Mind wurde millionenfach gedruckt und in viele Sprachen übersetzt, das Gedicht I Am Waiting war zeitweilig Schullektüre in einer etwas anderen, freieren USA. Nun ist Lawrence Ferlinghetti im Alter von 101 Jahre am 24. Februar gestorben, einem Monat vor seinem 102. Geburtstag.

*** Zu seinem 100. Geburtstag schrieb ein gelehrter Feuilletonist, dass Ferlinghetti in Vergessenheit geraten ist: "Der idealistisch-humanistische, pazifistische und generell der kritischen Aufklärung verpflichtete Impetus dieser Strömungen und Werke wurde mit der Beliebigkeit und geistigen Leere der postmodernen Entwicklung konfrontiert. Auffallend ist auch, dass diese Tendenz mit dem Aufkommen des ökonomischen Neoliberalismus zeitlich zusammenfiel." Diesem Neoliberalismus verdanken wir ein gänzlich anderes Geheul, nämlich die Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace von Perry Barlow: "Regierungen der industriellen Welt, Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich Euch, Vertreter einer vergangenen Zeit: Lasst uns in Ruhe! Ihr seid bei uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, besitzt Ihr keine Macht mehr. Wir besitzen keine gewählte Regierung, und wir werden wohl auch nie eine bekommen - und so wende ich mich mit keiner größeren Autorität an Euch als der, mit der die Freiheit selber spricht. Ich erkläre den globalen sozialen Raum, den wir errichten, als gänzlich unabhängig von der Tyrannei, die Ihr über uns auszuüben anstrebt. Ihr habt hier kein moralisches Recht zu regieren noch besitzt Ihr Methoden, es zu erzwingen, die wir zu befürchten hätten."

*** Auslöser für dieses Geheul, das Barlow in Davos auf dem Weltwirtschaftsforum vor 25 Jahren erstmals vortrug, war der Telecommunications Act, den US-Präsident Bill Clinton am 8. Februar 1996 unterschrieb. Mit dem Gesetz sollten eine Reihe von Wettbewerbsbeschränkungen, gleichzeitig aber auch eine Reihe von inhaltlichen Beschränkungen aufgehoben werden. Teil des Gesetzes nur Neuregelung der Kommunikation war der Communications Decency Act mit der berühmten Section 230. Wer sich an die Zeit des Grauens erinnert: Section 230 mit der Regel, dass Internetprovider nicht für die Inhalte haftbar gemacht werden können, die Nutzer einstellen, wurde von Donald Trump in seinen letzten Twitter-Zuckungen heftig bekämpft. Ja, der soziale Raum, der da errichtet wurde, sollte ja gänzlich unabhängig sein von der Tyrannei der politischen Korrektheit, ein Fediverse bunt zusammengewürfelter Meinungen im freien Austausch. Nunja, es ist etwas anders gekommen. Die Giganten aus Fleisch und Stahl sind verschwunden und haben Giganten Platz gemacht, die eine andere Macht haben: "Die kalte Optimierungslogik, nach der die Plattformen Inhalte verbreiten und den öffentlichen Raum umgestalten, ist zur Bedrohung für die Vielfalt, für Menschenwürde und die Gesundheit geworden. Dass in Deutschland jetzt Millionen Impfdosen ungenutzt bleiben, liegt teilweise daran, dass Plattformen wie Facebook Verschwörungstheoretikern nicht nur eine Bühne geben, sondern Halbwahrheiten und Pseudowissenschaft systematisch verbreiten und zu Geld machen." Das schreib ein ehemaliger Berater von Hillary Clinton unter dem leicht irritierenden Titel "Deutschland muss Amerika heilen helfen" in dem Blatt, in dem kluge Köpfe hinter der Paywall sitzen.

*** Doch zurück zum Telecommunications Act vor 25 Jahren. Was hatte dieses Gesetz nicht alles für überraschende Folgen. Jede Menge Fusionen verwirbelten den Markt. MCI Communication fusionierte mit WorldCom zu MCI Worldcom und diese Firma versank in einem der größten Börsenskandale beim Platzen der Dotcom-Blase. Lucent Technologies und Nortel waren mit riesigem Abstand die Giganten aus Stahl und Drähten, die 1996 praktisch alles produzierten, was für eine digitale Souveränität von einem Staat benötigt wird. Zu diesem Zeitpunkt war Huawei eine Firma, die Telefonanlagen dieser Konzerne aus Hongkong nach China exportierte. Die Zerschlagung und die Auflösung von Lucent gehören zu den dramatischen Kapiteln der westlichen Industriegeschichte. Viele IT-Journalisten erinnern sich noch daran, wie Lucent, Nortel und Alcatel auf der CeBIT auftauchten, mit riesigen Geldtöpfen, um rauschende Partys zu feiern. Als Nortel das erste Mal auf der CeBIT war, waren die anwesenden Manager des Konzerns, alles alte weiße Männer, etwas verwirrt und wirkten, als hätten sie noch nie mit dieser komischen IT-Branche zu tun gehabt. Die Ausfallzeiten, die in der IT-Branche als normal angesehen wurden, waren für die Nortel-Manager unvorstellbar. Nicht, dass ihre Hardware wirklich entscheidend ausfallsicherer gewesen wäre (das zwar auch, jedoch nicht um das Maß mehr, wie sie ihren Kunden garantierten), aber alle Systeme waren mit mehrfacher Redundanz abgesichert, was schon ein dickes Plus in dieser Branche bedeutete. Doch vorbei ist vorbei; und solche Zeiten, in der ein aus der Zerschlagung von Nortel hervorgegangener Konzern wie Avaya mal eben 100 Millionen Dollar beim deutschen "Sommermärchen 2006" zubutterte, dürfte es nicht wieder geben. Schwamm drüber, ist ja alles verjährt und schön war es doch, ne?

*** Um die erdabgewandte Seite der sehr speziellen deutschen Entwicklungsvariante in diesem unseren Cyberspace zu beleuchten, hat Jan Böhmermann in dieser Woche dieses Missing Link in seiner Bühnenshow verfilmt. Ja, der Fehlstart der deutschen Datenautobahn ist immer ein Lacher wert, auch wenn die technische Erklärung von Vectoring sehr schmerzt; wenn man keine Ahnung hat ... usw. ... usf.. Das haben Pferde und Faxgeräte nicht verdient, auf ihren stolzen Rücken ruhte schließlich einst die Zustellung der Briefpost (Pferde) und von rechtssicheren Unterschriften (Fax). Nun hält sich Jan Böhmermann selbst für einen "Quatschvogel", also sollte man nicht zu streng sein, den Komik kann auch peinlich und nicht nur komisch sein. Aber ist er darum ein linker Diskurspolizist, der stichelt, zuspitzt und verundeutllich? Wo die Nerven blank liegen, kann schon ein Lüftchen scheuern.

Bleiben wir bei den Pferden. Ab und an kann es passieren, dass jemand ein totes Pferd reitet. Rein empirisch gesehen kommt er dann nicht vom Flecke. Aber wodurch entsteht dann der Eindruck der Bewegung? Thilo Jung, ein anderer Fernsehmann, hat da ein Interview mit dem Boss des Vectoring-Anbieters Deutsche Telekom geführt. In diesem Interview kam ein toter Gaul vor, die De-Mail mit eingebautem Behördenkontakt, die angeblich längst eingestellt ist. Das mag stimmen oder auch nicht, nur dann treibt mich die Frage herum, woher eigentlich diese deprimierenden Mitteilungen der Deutschen Rentenversicherungen kommen, die mir per De-Mail geschickt werden. Aus dem Jenseits, wo die toten Gäule mit den Hufen scharren und darüber wiehern, was dereinst an Geld bis zum Jenseits ausgezahlt wird? Was machen eigentlich die vielen Übersetzungsbüros, die Texte juristisch verbindlich gesichert schicken müssen und dafür De-Mail nahmen? Nein, De-Mail war kein Erfolgsmodell, doch für ein paar Spezialanwendungen durchaus zu gebrauchen. Vielleicht rappelt er sich nochmal auf, der alte Gaul: Alle deutschen Behörden sind dazu verpflichtet, sich ein De-Mail-Postfach zuzulegen. Es soll ja vorangehen mit dem Online-Zugangsgesetz.

"Modernes Verwaltungsmanagement", ja, genau. Von wegen totes Pferd.

(jk)