Vorlauf

Am Anfang des Online-Lebens und E-Commerce in Deutschland stand die deutsche Post – mit dem von ihr angebotenen Bildschirmtext, der jetzt 25 wäre.

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Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Am 2. September 1983, am Vorabend der Berliner Funkausstellung, startete die deutsche Bundespost den Bildschirmtext, der Deutschland (West) zu einem Volk der „Teleleser“ machen sollte. Bis 1985, so die Vorgabe des insgesamt auf 200 Millionen D-Mark veranschlagten Gesamtprojekts, sollte sich jeder Bundesbürger zum Ortstarif in ein bundesweites Netz einwählen können und politische Informationen, Fahrpläne sowie Sportnachrichten abrufen und dem Telekauf per Schaltstern („*#“) frönen können. Teleshopping bei Neckermann, Otto und Quelle, Onlinebanking bei der Norisbank – der Telekauf sollte den Bundesbürgern die Vorteile eines neuen Online-Lebens schmackhaft machen. 21 329 Haushalte, dazu 3000 Feldversuchsteilnehmer ließen sich im ersten Jahr darauf ein, über das Telefonnetz mit einem „BTX-Modem“ am Fernseher ein Onlinesystem zu benutzten, das mit farbiger Klötzchengrafik arbeitete.

Zum offiziellen Start auf der internationalen Funkausstellung (IFA) konnte BTX bereits auf eine bewegte Geschichte zurückblicken. Denn schon auf der IFA 1977 freute sich der damalige Postminister Kurt Gscheidle, das britische Viewdata-System präsentieren zu können, aus dem nach einer Idee im Postministerium BTX werden sollte. Dass es sechs Jahre statt wie geplant ein Jahr dauerte, bis BTX starten konnte, lag erstens am erbitterten Widerstand der Zeitungsverleger, die in den von Gscheidle gepriesenen „Online-Nachrichten“ eine Bedrohung ihrer wirtschaftlichen Grundlagen sahen. Außerdem lag es an einer Ausschreibung der Datenverbundtechnik, die überraschend IBM gewinnen konnte, obwohl man keinerlei Erfahrungen mit einem solchen System hatte. Prompt konnte IBM sein System nicht zum vorgesehen Starttermin im September 1983 liefern, weswegen die Post bis Juni 1984 auf das alte Viewdata-System zurückgreifen musste.

Die Idee zu Viewdata kam dem englischen Ingenieur Sam Fedida vom Post Office Research Centre, als er ein Memorandum der amerikanischen Wissenschaftler Licklider und Taylor gelesen hatte. Ihr Text „The Computer as Communications Device“ aus dem Jahre 1968 gilt heute als theoretische Geburtsstunde des Internet. Genauso wichtig war er für die Entwicklung des BTX-Systems. Fedida beschäftigte sich damit, wie man ein Computerterminal mit einem Fernsehgerät kreuzen könnte. Sein „Viewdata Timesharing Common Carrier“ genanntes System wurde im September 1975 der Öffentlichkeit vorgestellt und bald in Prestel ungetauft, benannt nach der Klötzchengrafik, die das System produzierte. Dieses Prestel-System wurde 1977 in Deutschland vorgeführt und stieß auf riesiges Interesse. „Eins zu Null für die Bundespost“ titelte ein großes deutsches Wochenmagazin. 120 Firmen meldeten auf der IFA ihr Interesse an Bildschirmtext.

Auf der IFA 1979 konnte die Bundespost 123 Firmen präsentieren, zum Start des BTX-Feldversuches im Jahr 1980 gar 300 Anbieter, zum Publikumsstart 1983 waren es 344. Alle hofften auf das große Onlinegeschäft zu niedrigen Kosten. Abgesehen vom Telefon-Ortstarif, damals 20 Pfennig für 24 Stunden, sollten nur wenige Seitenabrufe kostenpflichtig sein, weil der erwartete Telekauf alles subventionieren sollte. Firmen sollten „Schlagworte“ kaufen, so die ursprüngliche Idee. Gab der BTX-Teilnehmer das Schlagwort mit dem „Schaltstern“ ein (zum Beispiel *Heise#), landete er auf dem Angebot der Firma.

Allerdings stellte sich schon 1984 Ernüchterung ein: Die Produktion von BTX-Decodern für die Fernsehgeräte und Modems verlief schleppend, ihre Preise waren viel zu hoch. Statt der 300 000 prognostizierten Teilnehmer verfügten nach einem Jahr nur 38 894 Haushalte über BTX (die 300 000er-Grenze wurde 1991 übersprungen). Wirklich erfolgreich war nur das Onlinebanking, das vor allem Kleinbetriebe nutzten – und Beate Uhse. Die Firma kaufte von Beginn an so viele nicht-erotische Schlagworte wie nur irgend möglich. Sie sollten alle zu dem einen Onlinekatalog führen. Weil die BTX-Seiten dem Suchenden alphabetisch geordnet präsentiert wurden, besaßen die Flensburger Sexshopbetreiber in ihren besten BTX-Zeiten Hunderte von Firmen wie „AAAAAAA Aktuelle Information“. Der Rekord war eine Handelsregister-Eintragung mit 500 As vor dem Namen. Kürzer ausgedrückt: Sex sells.

EDV-technisch sollte das deutsche BTX eine „Leuchtturmfunktion“ für andere Länder haben, wie man heute sagen würde. SEL, der Hoflieferant der Post, schickte ein SELTEX genanntes System in die Ausschreibung, das ein eng vermaschtes Netz von 400 verteilten, im Stil des Arpanet gekoppelten Servern vorsah. Demgegenüber propagierte IBM einen hierarchischen Netzaufbau nach dem SNA-Prinzip mit einem Zentralrechner in Ulm, der alle regionalen Datenbanken enthielt und reihum 50 Regionalzentren bediente. Das IBM-System war mit 30 Millionen Mark wesentlich billiger als SELTEX, wobei IBM vor allem dadurch gewann, dass es den Inhaltsanbietern Pfennigbeträge für BTX-Seitengebühren versprach. IBM wollte Mehreinnahmen vor allem durch die Lizenzierung des IBM-Protokolls EHKP (Einheitliches Höheres Kommunikationsprotokoll) erzielen, mit dem Fremdrechner an BTX angeschlossen wurden. Für IBM war der Start ein mittleres Fiasko: Die Firma hielt als Generalunternehmer für den gesamten Rechnerverbund den Termin vom 2. September nicht ein und zahlte eine Konventionalstrafe von 3,6 Millionen Mark. Erst 1993 konnte IBM mit der (nunmehr veralteten Technik) einen Gewinn erzielen.

Die Entwicklungsgeschichte von BTX ist eng mit dem Onlinebanking verbunden, das bis zum offiziellen Ende des Bildschirmtextdienstes im Jahr 1999 die dominierende Anwendung war. Tatsächlich lief BTX wegen zahlreicher wechselunwilliger Bankingkunden als „T-Online Classic“ munter weiter und wurde erst am 10. Mai 2007 während einer feierlichen „Power Off“-Veranstaltung in Ulm abgeschaltet. In dieser Hinsicht erlebte der älteste deutsche Onlinedienst auch das, was die BTX-Techniker als „BTX-Depression“ bezeichneten: Im November 1984 erleichterte der Chaos Computer Club mit einem Trick die Hamburger Sparkasse (Haspa) um 135 000 DM: Die Hacker ließen die Haspa für jeweils 9,97 Mark 14 Stunden lang den Text „Es erfordert ein bemerkenswertes Team, den Gilb zurückzudrängen“ abrufen. Mit Gilb war die deutsche Bundespost gemeint, der Betreiber des BTX-Systems, den Hacker wegen seiner restriktive Modem-Zulassungspraxis hassten.

In der fast 30-jährigen Existenz von BTX gelang es dem durchaus aufgeschlossenen Gilb nicht, aus dem deutschen Volk ein Volk der Teleleser zu machen, wie 1983 versprochen. Das lag auch an der technischen Entwicklung. Die Techniker der Post begriffen zu spät, dass der Personal Computer dem BTX-Fernseher weit voraus war; und sie waren zu stark von der Technik abhängig, die IBM lieferte. Als man 1992 soweit war, die Klötzchengrafik durch einen grafisch ansprechenderen „Kit-Standard“ zu ersetzen, hatten Onlinedienste wie Compuserve und AOL schon viele „Onliner“ in Deutschland gebunden. Und mit dem kommerziellen Internet wurde die ganze Welt zum Teleleser.

Detlef Borchers
ist freier DV-Journalist und arbeitet für deutsche und amerikanische Fachzeitschriften. (hb)