Spitzenforscher fordern "echte Untersuchung" des Ursprungs von COVID-19

Eine Gruppe prominenter Biologen meint, es müsse einen "sicheren Raum" für die Diskussion der Frage geben, ob SARS-CoV-2 nicht doch aus einem Labor entfleuchte.

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(Bild: Fusion Medical Animation / Unsplash)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Rowan Jacobsen
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Vor einem Jahr wurde die Idee, dass die COVID-19-Pandemie durch einen Laborunfall verursacht worden sein könnte, von den weltweit führenden Fachzeitschriften, Wissenschaftlern sowie seriösen Medien als Verschwörungstheorie angeprangert. Doch der Ursprung des Virus, das mittlerweile Millionen von Menschenleben auf dem Gewissen hat, bleibt nach wie vor ein Rätsel – und die Annahme, dass es doch aus einem Labor in China entfleuchte, ist mittlerweile zu einem Diskussionsgegenstand geworden, der sich scheinbar nicht mehr aus der Welt schaffen lässt.

In einem Brief im renommierten Fachjournal "Science" unterstützen nun 18 prominente Biologen – darunter der weltweit führende Coronavirus-Forscher – die Forderung nach einer neuen Untersuchung aller möglichen Ursprünge des Virus und fordern Chinas Laboratorien und Behörden auf, "ihre Unterlagen für unabhängige Analysen zu öffnen". "Wir müssen Hypothesen sowohl über natürliche als auch über Laborübertragungen ernst nehmen, bis wir genügend Daten haben", schreiben die Wissenschaftler.

Der Brief, der von dem Mikrobiologen David Relman von der Stanford University und dem Virologen Jesse Bloom von der University of Washington federführend verfasst wurde, zielt auf eine kürzlich von der Weltgesundheitsorganisation WHO und China gemeinsam durchgeführte Studie über die Herkunft von SARS-CoV-2 ab, die zu dem Schluss kam, dass ein Fledermausvirus wahrscheinlich über ein Zwischentier auf den Menschen gelangte und dass ein Laborunfall "extrem unwahrscheinlich" sei.

Diese Schlussfolgerung sei wissenschaftlich nicht gerechtfertigt, so die Autoren des "Science"-Briefes, da keine Spur gefunden wurde, wie das Virus zuerst auf den Menschen übergesprungen sei – und gleichzeitig die Möglichkeit eines Laborunfalls nur oberflächlich betrachtet wurde. Nur eine Handvoll der insgesamt 313 Seiten des WHO-Berichts zu den Ursprüngen von COVID-19 und seiner Anhänge sind dem Thema gewidmet.

Marc Lipsitch, ein renommierter Epidemiologe an der Harvard University, der zu den Unterzeichnern des Briefes gehört, sagt, er habe sich bis vor kurzem nicht zur Herkunft des Virus geäußert und sich stattdessen darauf konzentriert, das Design von epidemiologischen Studien und Impfstoffversuchen zu verbessern – zum Teil, weil die Debatte über die Labortheorie so kontrovers geworden sei. "Ich habe mich da rausgehalten, weil ich damit beschäftigt war, mich mit den Folgen der Pandemie zu beschäftigen und nicht mit ihrem Ursprung", sagt er. "Aber wenn die WHO mit einem Bericht herauskommt, der eine fadenscheinige Behauptung über ein wichtiges Thema aufstellt ... dann ist es wert, sich zu äußern."

Einige der Unterzeichner des Briefes, darunter Lipsitch und Relman, haben in der Vergangenheit eine genauere Überprüfung der sogenannten Gain-of-Function-Forschung gefordert, bei der Viren genetisch verändert werden, um sie infektiöser oder virulenter zu machen. In den USA, in China und weiteren Ländern war es zuvor bereits zu solchen Laborunfällen gekommen. Auch am Wuhan Institute of Virology (WIV), Chinas führendem Zentrum zur Erforschung von Fledermausviren, die SARS-CoV-2 ähneln, liefen solche Experimente, um Krankheitserreger zu manipulieren. Einige sehen die Tatsache, dass COVID-19 zuerst in derselben Stadt auftauchte, in der sich dieses Labor befindet, als Indiz dafür, dass ein Laborunfall schuld sein könnte. Lipsitch schätzte das Risiko einer Pandemie, die durch eine versehentliche Freisetzung aus einem Hochsicherheitslabor verursacht wird, auf 1 zu 1.000 bis 1 zu 10.000 pro Jahr und warnt, dass die Verbreitung solcher Labore rund um den Globus ein großes Problem darstellt.

Auch wenn chinesische Wissenschaftler betont haben, dass in diesem Fall kein solches Leck aufgetreten ist, sagen die Autoren des "Science"-Briefes, dass dies nur durch eine unabhängige Untersuchung festgestellt werden kann. "Eine ordnungsgemäße Untersuchung sollte transparent, objektiv, datengetrieben, unter Einbeziehung breiten Fachwissens, unter unabhängiger Aufsicht durchgeführt und verantwortungsvoll gemanagt werden, um die Auswirkungen von Interessenkonflikten zu minimieren," schreiben sie. "Sowohl öffentliche Gesundheitsbehörden als auch Forschungslabore müssen ihre Aufzeichnungen für die Öffentlichkeit zugänglich machen. Die Wissenschaftler sollten den Wahrheitsgehalt und die Herkunft der Daten dokumentieren, auf deren Grundlage Analysen durchgeführt und Schlussfolgerungen gezogen werden."

Die prominente chinesische Wissenschaftlerin Shi Zhengli, WIV-Forschungsleiterin für den Bereich Emerging Diseases und weithin als Expertin für Fledermausviren bekannt, teilte per E-Mail mit, die "Verdächtigungen" in dem "Science"-Brief seien "unangebracht" und könnten gar dazu führen, dass die Fähigkeit der Welt, auf Pandemien zu reagieren, geschädigt würde. "Das ist definitiv nicht akzeptabel", sagte Shi, die in Medien den Spitznamen "Batwoman" trägt, zudem über die Forderung der Biologen, die Aufzeichnungen ihres Labors sehen zu wollen. "Wer kann einen Beweis liefern, der nicht existiert?"

"Es ist wirklich traurig, diesen "Brief" zu lesen, der von diesen 18 prominenten Wissenschaftlern geschrieben wurde", so Shi weiter in ihrer E-Mail. "Die Hypothese eines Laborlecks basiert allein darauf, dass es sich um ein Labor handelt, das schon lange an Fledermaus-Coronaviren arbeitet, die phylogenetisch mit SARS-CoV-2 verwandt sind." Diese Art von Behauptungen werde "ganz bestimmt den Ruf und den Enthusiasmus von Wissenschaftlern beschädigen, die sich der Arbeit an neuartigen Viren, die aus der Tierwelt kommen, widmen". Diese trügen ein potenzielles Spillover-Risiko für die Menschheit. "Damit wird [unsere] Fähigkeit geschwächt, die nächste Pandemie zu verhindern."

Die Diskussion um die Lab-Leak-Hypothese ist bereits hochpolitisch geworden. In den USA wurde sie vor allem von Republikanern und konservativen Medienvertretern, darunter Fox-News-Moderator Tucker Carlson, lautstark unterstützt. Die daraus resultierende Polarisierung habe einen abschreckenden Effekt auf die Wissenschaft gehabt, worauf diese zögerte, sich dem Thema zu widmen, meint Relman.

"Wir fühlten uns motiviert, etwas zu sagen, weil die Wissenschaft nicht dem gerecht wird, was sie sein kann, nämlich ein faires, strenges und offenes Bemühen zu sein, mehr Klarheit über eine Sache zu gewinnen", sagt der Mikrobiologe. "Für mich war es Teil des Ziels, einen sicheren Raum für andere Wissenschaftler zu schaffen, um von sich aus sprechen zu können."

Im Idealfall sei dies ein "relativ unumstrittener Aufruf, so klar wie möglich zu sein, wenn es darum geht, verschiedene mögliche Hypothesen zu testen, für die wir nur wenige Daten haben", sagt Megan Palmer, Biosicherheitsexpertin an der Stanford University, die das Schreiben nicht unterzeichnet hat. "Wenn die politische Seite einer Fragestellung komplex ist und viel auf dem Spiel steht, kann eine Mahnung prominenter Experten genau das sein, was nötig ist, um andere zu genaueren Überlegungen zu zwingen."

Dieser Haltung schließt sich auch Konteradmiral Kenneth Bernard an, ein Epidemiologe, der als Experte für Bioabwehr im Weißen Haus der Präsidenten Bill Clinton und George W. Bush diente. Der Brief, sagt er, "ist ausgewogen, gut geschrieben und spiegelt genau die Meinung aller klugen Epidemiologen und Wissenschaftler wider, den ich kenne. Wenn ich gefragt worden wäre, hätte ich ihn selbst unterschrieben".

Der Brief spiegelt einige der Bedenken eines früheren Aufrufs für eine neue Untersuchung wider, der im "Wall Street Journal" von 26 politischen Analysten und Wissenschaftlern veröffentlicht wurde, die eine genauere Untersuchung des WIV forderten und argumentierten, dass "das [WHO]-Team nicht das Mandat, die Unabhängigkeit oder den notwendigen Zugang" gehabt habe, um eine vollständige und uneingeschränkte Untersuchung durchzuführen.

Aber diese Gruppe bestand größtenteils aus weniger bekannten Persönlichkeiten. Der Brief wurde deshalb von etablierten Virologen mit der Begründung zurückgewiesen, dass es den Unterzeichnern an entsprechender Expertise fehle. "Es ist schwer, jemanden mit relevanter Erfahrung zu finden, der unterschrieben hat", twitterte Kristian Andersen, Immunologe und Virusexperte am Scripps Research Institute, der selbst der Meinung ist, dass die verfügbaren Beweise auf einen natürlichen Ursprung von COVID-19 hindeuten.

Mit diesem neuen Brief wird eine solche Zurückweisung nicht mehr möglich sein. Denn zu den Unterzeichnern gehören Prominente wie Akiko Iwasaki, eine Yale-Immunologin, die wichtige Erkenntnisse über die Reaktion des Immunsystems auf SARS-CoV-2 entdeckt hat oder auch Ralph Baric, Virologe an der University of North Carolina, der als weltweit führende Autorität auf dem Gebiet der Coronaviren gilt. Baric hat selbst Pionierarbeit bei Techniken zur genetischen Manipulation solcher Viren geleistet – und diese Gain-of-Function-Verfahren wurden auch am WIV verwendet.

Der neue Brief gewinnt auch durch die Veröffentlichung in "Science", einer der renommiertesten Fachzeitschriften der Welt, zusätzliche Bedeutung. Die Wahl des Ortes, sagt Relman, war wichtig. Einige der Co-Autoren hätten ihm gesagt: "Ich werde mitmachen, aber ich möchte nicht Teil eines offenen Briefes an die Welt sein – oder der eines Op-Eds in der New York Times." So sähen sich die Unterzeichner nicht. Die seien Wissenschaftler und würden sich deshalb lieber an andere Wissenschaftler in einem wissenschaftlichen Journal wenden. Welche Auswirkungen der Brief haben wird, bleibt unklar. Wenn China einer neuen Untersuchung nicht zustimmt, stellt sich die Frage nach der Form. Und welche Länder sollen teilnehmen? Es ist zumindest denkbar, dass der Brief dem Weißen Haus eine Art nützliche Deckung geben könnte, die Volksrepublik unter größeren Druck zu setzen.

"Ich denke, es gibt Möglichkeiten, eine Untersuchung zu organisieren, die einen Wert hat", glaubt Relman. "Sie wird nicht so einschneidend sein, wie sie hätte sein können, wenn sie in der ersten Januarwoche 2020 durchgeführt worden wäre und alle Daten auf dem Tisch gelegen hätten." Aber es sei noch immer nicht zu spät."Und selbst wenn wir keine eindeutige Antwort bekommen, wäre es das wert, denn wir würden dann weiter sein, als wir es jetzt sind."

Unabhängig davon, ob eine Untersuchung die Quelle von COVID-19 aufdeckt oder nicht, meint Lipsitch, er glaubt, dass es mehr öffentliche Kontrolle über die Laborforschung mit Viren geben muss, die das Potenzial haben, sich unkontrolliert zu verbreiten. "Es geht nicht nur darum, ob ein Laborunfall diese spezielle Pandemie verursacht hat", sagt er. Er möchte, dass sich die Aufmerksamkeit auf die Regulierung gefährlicher Experimente konzentriert. "Denn wir haben gesehen, was eine Pandemie bei uns allen anrichten kann. Wir sollten extrem sicher sein, bevor wir etwas tun, das die Wahrscheinlichkeit von Unfällen auch nur ein kleines bisschen erhöht."

(bsc)