COVID-19: Was die Delta-Variante so gefährlich macht

Die Variante, die zuerst in Indien auftauchte, ist bereits der dominierende Stamm in Großbritannien. Warum ist sie infektiöser und womöglich tödlicher?

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(Bild: 1take1shot/Shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Cassandra Willyard
Inhaltsverzeichnis

Die Zahl der Corona-Infektionen nimmt in England wieder zu. Eine sich schnell ausbreitende Variante dürfte daran schuld sein: B.1.617.2, jetzt unter dem Namen Delta bekannt ist, tauchte zuerst in Indien auf, hat sich aber laut der Weltgesundheitsorganisation WHO inzwischen in 62 Ländern verbreitet.

In den USA ist Delta noch selten. Auf einer Pressekonferenz in der vergangenen Woche sagte der medizinische Chefberater des Weißen Hauses, Anthony Fauci, dass die Mutante aktuell nur für sechs Prozent der Fälle verantwortlich sei. Auch in Deutschland stagniert ihr Anteil seit Wochen bei etwas über zwei Prozent.

Aber in Großbritannien hat Delta die Mutante B.1.1.7 – auch bekannt als Alpha oder britische Variante – bereits überholt und ist zum dominierenden Stamm geworden. Das kann die ursprünglichen Pläne des Landes, die Beschränkungen am 21. Juni zu lockern, zunichtemachen.

Die Gesamtzahl der Fälle ist noch gering. Trotzdem beobachten die Gesundheitsbehörden die Variante sehr genau. Vor einer Woche berichtete der britische Staatssekretär für Gesundheit und Soziales, Matt Hancock, dass Delta um etwa 40 Prozent leichter als Alpha übertragbar zu sein scheint. Die Wissenschaft versucht derzeit noch, die genaue Zahl festzulegen – die Schätzungen reichen von 30 bis 100 Prozent. Die Forscher wollen verstehen, weshalb diese Virusmutante so viel infektiöser ist. Noch haben sie nur wenig eindeutige Antworten, aber bereits einige Hypothesen entwickelt.

Wenn Viren sich vermehren und dabei ihr Genmaterial kopieren, entstehen regelmäßig Mutationen – spontan auftretende Veränderung des Erbgutes. Das ist bei allen Viren so, und SARS-CoV-2 keine Ausnahme. Viele dieser Mutationen haben überhaupt keine Auswirkungen. Aber einige verändern die Struktur oder die Funktion des Virus.

Die Identifizierung von Veränderungen in der genetischen Sequenz eines Virus ist einfach – herauszufinden, wie sich diese Veränderungen auf die Verbreitung eines Virus auswirken, jedoch deutlich schwieriger. Als guter Ansatzpunkt erweist sich dabei das Spike-Protein, mit dessen Hilfe das Virus in die Zellen eindringt.

Um Zellen zu infizieren, muss SARS-CoV-2 in den Körper eindringen und an Rezeptoren auf der Zelloberfläche andocken – ähnlich einem Schlüssel, der in ein Schloss passt. Das Virus ist mit stachelförmigen Spike-Proteinen bestückt (Schlüssel), die sich an den Rezeptor ACE2 auf menschlichen Zellen (Schloss) anheften. Dieser Rezeptor sitzt auf vielen Zelltypen, unter anderem auf denen, die innen die Lunge auskleiden.

Wenn Mutationen dem Virus helfen, fester anzudocken, können sie die Übertragung von einer Person zur anderen erleichtern. Atmet jemand ein Tröpfchen ein, das SARS-CoV-2 enthält, und haben diese Viren eine stärkere Bindungsfähigkeit, "werden sie rascher eine Zelle finden und infizieren", sagt Nathaniel Landau, Mikrobiologe an der NYU Grossman School of Medicine. Die Wissenschaftler wissen noch nicht, wie viele Partikel von SARS-CoV-2 man einatmen muss, um infiziert zu werden, aber die Schwelle wäre wahrscheinlich niedriger für ein Virus, das sich besser an ACE2 "festklammern" kann.

Landau und seine Kollegen untersuchen die Bindung des Virus an die Zelle, indem sie Pseudoviren erzeugen. Diese im Labor hergestellten Viren können sich nicht vermehren, aber die Forscher können sie so verändern, dass sie das Spike-Protein auf ihrer Oberfläche ausbilden. So können die Wissenschaftler die Bindung testen, ohne in einem Hochsicherheitslabor arbeiten zu müssen. Die Forscher mischen diese Pseudoviren mit Kunststoffkügelchen, die mit ACE2 beschichtet sind, und ermitteln dann, wie viele Viren an den Kügelchen haften. Je größer die Virusmenge ist, desto besser bindet das Virus. In einem Preprint, der im Mai veröffentlicht wurde, zeigen Grunbaugh und Kollegen, dass einige der in Delta aufgetretenen Mutationen die Bindungsfähigkeit verbessern.

Eine bessere Bindung senkt nicht nur die Schwelle für eine Infektion. Weil das Virus besser an ACE2 haftet, wird es auch mehr Zellen im Körper infizieren. "Die infizierte Person wird mehr Viren in sich haben, weil sie sich effizienter vermehren", sagt Landau.

Im nächsten Schritt nach der Bindung des Virus an ACE2 verschmilzt es mit der Zelle. Dazu durchtrennen Enzyme der Wirtszelle das Spike-Protein an zwei verschiedenen Stellen, ein Prozess, der als Spaltung (Cleavage) bekannt ist. Dadurch wird die Fusionsmaschinerie in Gang gesetzt. Ist die Bindung der Schlüssel, der ins Schloss passt, dann ist der Spaltprozess die Drehung des Schlüssels, die den Riegel aufschiebt. "Ohne Schnitte an beiden Stellen kann das Virus nicht in die Zellen eindringen", sagt Vineet Menachery, ein Virologe an der University of Texas Medical Branch.

Eine der Mutationen von Delta tritt tatsächlich an einer dieser Spaltstellen auf. Eine neue, noch nicht begutachtete Studie, zeigt, dass diese Mutation die Spaltung tatsächlich verstärkt. Und Menachery, der nicht an der Studie beteiligt war, sagt, er habe diese Ergebnisse in seinem Labor wiederholen können. "Es ist also etwas einfacher für das Virus, aktiv zu werden", sagt er.

Ob das die Übertragbarkeit verbessert, ist noch nicht bekannt, aber es könnte sein. Wenn Wissenschaftler diese Spaltstellen deaktivieren, überträgt sich das Virus weniger leicht und ist nicht so pathogen, sagt Menachery. Es ist also naheliegend, dass Veränderungen, welche die Spaltung erleichtern, die Übertragbarkeit erhöhen.

Das Deltavirus ließe sich auch dann besser übertragen, wenn es sich der Immunantwort des Körpers entziehen könnte. Dann würden mehr Zellen infiziert und mehr Viren produziert werden – und eine Person, die das Virus in sich trägt, steckt leichter eine andere an.

Die gute Nachricht ist, dass die Impfung auch gegen Delta schützt. Der Impfstoff von Pfizer-BioNTech verhinderte laut einer neuen Studie von Public Health England bei vollständig geimpften Personen eine symptomatische Erkrankung durch Delta zu 88 Prozent. Der Impfstoff von AstraZeneca bot etwas weniger Schutz. Zwei Impfungen waren zu 60 Prozent wirksam gegen die Variante. Beide Impfstoffe wirkten jedoch bei nur einer Dosis deutlich schwächer gegen die Delta-Variante: nur zu 33 Prozent.

In den USA und Großbritannien sind derzeit etwa 42 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft (in Deutschland knapp 26 Prozent – Stand 12.06.2021). In Indien, wo die Infektionsrate unter anderem durch die rasante Ausbreitung des Delta-Virus stark anstieg, sind hingegen gerade mal 3,3 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft.

Bei seiner Pressekonferenz zum Delta-Virus forderte der Berater der US-Regierung Fauci alle noch nicht geimpften Bürger auf, sich die erste Impfung geben zu lassen – und appellierte an Erstgeimpfte, ihre zweite Dosis nicht auszulassen. Die Biden-Administration hofft, dass bis zum 4. Juli 70 Prozent der Bevölkerung zumindest teilweise geimpft sein werden. In Großbritannien, wo derzeit die Fallzahlen wieder steigen, verdrängte Delta schnell Alpha als dominierender Stamm. "Wir können nicht zulassen, dass das in den Vereinigten Staaten passiert," sagt Fauci.

Auch in Deutschland drängt Christian Drosten, Leiter der Virologie der Berliner Charité, eindringlich dazu, aufzupassen, dass die Menschen angesichts stark gesunkener Fallzahlen nicht nachlässig werden und sich zum Beispiel ihre Zweitimpfung nicht mehr abholten. (bsc)