Digitalisierung in der Pflege: Was Deutschland noch lernen kann

Der Pflegebedarf steigt, aber der Zuwachs an Pflegenden stockt. Können neue Technologien das Pflegebett zu einem attraktiveren Arbeitsplatz machen?

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 7 Kommentare lesen
Telemedizin

(Bild: Pressmaster/Shutterstock.com)

Stand:
Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Maxie Lutze
Inhaltsverzeichnis

Von den heute Geborenen könnte jeder Dritte 100 Jahre alt werden und für 2050 sagt das Bundesministerium für Gesundheit über fünf Millionen zu pflegende Menschen in Deutschland voraus. Das Pflegesystem leidet allerdings jetzt schon unter strukturellen Problemen: Eine Befragung des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) zeigt, dass Personalmangel und anspruchsvolle Arbeitsbedingungen dafür sorgen, dass knapp die Hälfte der Beschäftigten mit Abstrichen bei der Qualität leben muss, um die Arbeit überhaupt erfüllen zu können.


Dieser Artikel stammt aus Ausgabe 04/2021 MIT Technology Review (als pdf bestellen)


Selbst ihre hohe intrinsische Motivation und Beschäftigungssicherheit reichen langfristig nicht aus, um diese Arbeitsbelastungen zu kompensieren: Hohe Arbeitsunfähigkeitszeiten und Frühverrentungen sind die Folge. Können digitale Technologien das Dreieck aus Arbeitsbedingungen der Pflegenden, einer guten Versorgung Pflegebedürftiger und Wirtschaftlichkeit unterstützen?

Deutschland steht im Vergleich zu anderen Ländern im Grunde noch am Anfang, wenn es um "Pflegearbeit 4.0" geht. Was für ein Potenzial darin steckt, zeigt der Blick in die Niederlande, nach Dänemark oder Kanada – das Institut für Innovation und Technik (iit) hat im Auftrag der Bertelsmann Stiftung untersucht, was Deutschland davon lernen kann.

Pflege 4.0 funktioniert, wenn die digitale Dokumentation von Diagnosen, Pflegemaßnahmen und Leistungen für die Abrechnungen sowie die digitale Kommunikation innerhalb des gesamten Versorgungsteams funktioniert. Aber ist eine digital unterstützte Pflege nun tatsächlich eine Entlastung – psychisch oder körperlich – oder nur ein weiterer Zeitfresser, der den Druck auf Pflegende weiter erhöht?

Grundsätzlich wirkt der Einsatz digitaler Technologien in der Langzeitpflege in Pflegeheimen vor allem auf die Psyche. Besonders das Teilen von Informationen entlastet – das sind so scheinbar profane Dinge wie etwa ein Chatsystem für das Kollegium, denn die Kommunikation in der Pflege basiert im Alltag immer noch häufig auf Zetteln und Telefonaten.

"Besonders sich über Sektoren hinweg, also mit Haus- und Fachärzten und -innen, abstimmen zu können, senkt den Umfang von Fehl- und Desinformation deutlich. Unabgestimmte Tätigkeiten nehmen ab, Missverständnisse werden vermieden und das Stresspotenzial sinkt", sagt Anja Borchert-Iversen, Sozial- und Gesundheitsassistentin des Pflegeheims Lergården im dänischen Aabenraa. Wenn mobile oder auf die Pflegeeinrichtung verteilte Geräte alle Informationen zur Verfügung stellen, entsteht ein einheitlicher digitaler Datenfluss, der alle notwendigen Informationen in Echtzeit zur Verfügung stellt – ein "digitaler Workflow" in der Pflege.

"Entscheidend ist jedoch, dass sich die Dokumentation an den Pflegeaufgaben orientiert und nicht nur als Rechtfertigungs- und Abrechnungstool eingesetzt wird", so Borchert-Iversen. Auch reine Zeitersparnis reduziert den Stress des Pflegepersonals nicht, wie die Studie zeigt, sondern der Austausch, der die Pflegebedürftigen in den Mittelpunkt stellt. Erst wenn das Personal die Dokumentation sinnvoll findet, spürt es Entlastung.

Ähnlich naheliegend sind Erleichterungen etwa durch den Einsatz von Sensorsystemen: In Lundbyescentret im dänischen Alborg zeigen Sensoren an, wenn sich Menschen mit eingeschränkter Mobilität zu wenig im Bett bewegen. In Lergården melden Matratzensensoren, wenn sturzgefährdete Personen aufstehen und Hilfe benötigen. Auf dem weitläufigen Gelände der Pflegeeinrichtung ist außerdem ein Sensor-Ring in den Boden des Gartens eingelassen, der registriert, wenn sich die Bewohner zu weit wegbewegen und verirren könnten. Ähnlich wie im Hochhaus in Villa Cathay, einer Einrichtung in Kanada, die Sensoren an Türen und Fahrstühlen angebracht hat, damit sich ihre Einwohner nicht verlaufen.