Klartext: Wie ich wieder Zeit zum Motorradfahren fand, oder: Digitale Freiheit

Wie viel Zeit man für Dinge hat, ist hauptsächlich eine Frage der Prioritäten. Ist Motorradfahren wichtiger, als Stunden auf Facebook zu verbummeln?

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"Ha! Toller Witz! Gut, dass ich dafür angehalten habe! Fettes Laik! Danke, Facebook, für die zügige Benachrichtigung! Kaum auszudenken, wenn ich das erst morgen gelesen hätte!"

(Bild: Clemens Gleich)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Hauskauf. Umzug. Renovierung. Das Alter. Familie. Hausarbeit. Benzinpreis. Es fehlt mir nun wahrlich nicht an Ausreden, kein Motorrad zu fahren. Wahrscheinlich geht es vielen hier ähnlich. Irgendwie ist es schon wieder Abend und fast nichts ist passiert. Warum zerrinnen die Tage nur so?

Ich kann da natürlich nicht für vorangegangene Generationen sprechen, deren Tage bei Feldarbeit, gewohnheitsmäßigem Alkoholüberkonsum oder Rundfunk zerflossen. Unsere heutigen Tage zerfasern jedoch sehr eindeutig unter dominierendem Einfluss der asozialen Medien. Da fließt erschreckend viel Zeit in den Abfluss, und am Ende hat man davon nicht viel mehr als den Stress eines Streits, den es ohne Facebook nicht gegeben hätte.

Wie viel Zeit der Einzelne verbaselt, misst zum Beispiel der Blockierdienst "Freedom", den rund eine Million Menschen benutzen, damit sie am Tag noch mehr gebacken kriegen als einen sinnlosen Streit und ein Dutzend "Like!"-Klicks. Im Durchschnitt gewinnen Freedom-Nutzer pro Tag zweieinhalb Stunden Zeit. Über diese Zeit hinaus gewinnen sie jedoch auch mehr Ruhe und die Zufriedenheit, am Ende eines Arbeitstags tatsächlich das gearbeitet zu haben, wofür die Firma bezahlt, statt nur Metaarbeiten wie E-Mails oder Kommentarantworten erledigt zu haben. Und Nutzer solcher Dienste sind ja bereits Menschen, die sich über ihre Prioritäten Gedanken machen. Der Gedankenlose dürfte mehr Zeit verlieren als zweieinhalb Stunden am Tag.

Jede Generation hat ihre eigenen Probleme. Ab etwa 1995 Geborene sozialisierten sich in der Zeit, als Sozialmedien und Smartphones Traktion fanden. Die ihnen folgende Generation wird nichts Anderes mehr kennen. Nun war natürlich auch vor dem Fernseher versumpfen ein gigantischer Timekiller, aber der Rundfunk verfügte noch nicht über die mächtigste Waffe der Massenablenkung: Benachrichtigungen. Jede noch so dämliche App hat welche, um dich ständig dazu zu bringen, ihr Aufmerksamkeit zu schenken, aus der sie Werbeeinnahmen generieren kann. Bing! Irgendjemand Egales hat Irgendetwas Egales getan! Schnell hingucken!

Wie geil die Triumph Speed Triple 1200 RS fährt, hat Kollege Ingo ja schon erzählt. Man muss da ja auch bisser ökonomisch denken, die Kosten einer Maschine gegen ihre Nutzungszeit rechnen. Herumstehen kostet bares Geld!

(Bild: Triumph)

Das kleine Handgerät erzieht den Menschen zur reflexartigen Werbungguckerei und fügt ihm dabei messbaren psychischen Schaden zu. Dr. Jean Twenge von der Universität San Diego stellte um 2012 herum so steile Verhaltensänderungskurven unter Studenten fest wie nie zuvor in ihrer 25-jährigen Karriere. Depressionsstörungen und "Anxiety" (US-Wort für Stressstörungen) schossen in den Himmel. Die Kurven fielen passgenau mit der Massenadoption von Smartphones zusammen.

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Nun sind Korrelationen keine Kausalzusammenhänge, aber die Forschung geht anhand des Timings stark davon aus, dass Smartphones zu den Hauptursachen gehören. Kein Gerät sonst schafft es, dass du ansatzlos eine Stunde verlierst, weil du auf die Uhr schauen wolltest, dann stand da eine Benachrichtigung, dann kamst du auf Twitter, wo jemand FALSCH lag, was du unbedingt korrigieren musstest und ... was wollte ich eigentlich gerade tun? Und wie viel Uhr ist es eigentlich?

Man würde davon ausgehen, dass Teenager diese Schlussfolgerung rundheraus ablehnen: "Pft, du bist so ALT, du verstehst das nicht." Stattdessen stimmen viele chronisch latent gestresste Anxiety-Teenager dem zu. Die ganze Sache ist auch nicht besonders verwunderlich, weil Milliarden von Dollar dafür ausgegeben wurden, die Technik so suchterzeugend wie möglich zu gestalten.

Wir Ältere können uns das kaum vorstellen. Ja, dieses Dings, wiehießesnoch, Finstergramm, das nervt manchmal, aber außer vertrödelter Zeit macht mir das jetzt keinen Puls. Doch eine Studie aus 2015 maß bei Teenagern im Durchschnitt eine tägliche Mediennutzung von 9 Stunden! Neun Stunden! Das ist jetzt 6 Jahre her, heute haben schon Babies ihre eigenen Tablets. Natürlich wird man von solchen Überdosen irgendwann kirre.

Für uns Silberrücken bedeutet "bei denen ist es RICHTIG arg" dennoch keine Entwarnung: Soziale Medien machen uns einsamer und unglücklicher, wenn wir den meisten Studien zum Thema glauben wollen. Wenn wir dagegen Facebooks eigenen Studien glauben wollen, ist es nur eine Frage, WIE man den Service nutzt, um sogar glücklicher zu werden. Monsanto hat ja auch immer wieder herausgefunden, wie unbedenklich Roundup ist. Jetzt wirds irgendwie trotzdem verboten für Privatanwender.