Wie Ingenieure die Coronavirus-Pandemie bekämpft hätten

In Corona-Zeiten bestimmten Epidemiologie und Virologie die Debatte. Doch wäre ein pragmatischerer ingenieurwissenschaftlicher Ansatz vielleicht besser gewesen?

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(Bild: Ms Tech / Wellcome Collection)

Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Siobhan Roberts
Inhaltsverzeichnis

In den vergangenen 20 Monaten wurde gefühlt jeder Laie zu einem Amateur-Epidemiologen und Statistiker. In der Zwischenzeit kam jedoch eine Gruppe echter Epidemiologen und Statistiker zu der Überzeugung, dass sich Pandemieprobleme effektiver lösen lassen, wenn man die Denkweise eines Ingenieurs annimmt: Das heißt, man konzentriert sich auf eine pragmatische Problemlösung mit einer iterativen, adaptiven Strategie, damit die Dinge funktionieren.

In einem kürzlich erschienenen Paper mit der Überschrift "Accounting for uncertainty during a pandemic" ("Berücksichtigung von Ungewissheiten während einer Pandemie") beschäftigt sich eine Forschergruppe um Andrew Gelman von der New Yorker Columbia University mit der Rolle der Wissenschaft während eines Notfalls im Bereich der öffentlichen Gesundheit und mit der Frage, wie sie besser auf die nächste Krise vorbereitet sein könnte. Die Antwort, so schreiben sie, könnte darin liegen, die bislang federführende Epidemiologie neu zu konzipieren – und zwar aus einer eher ingenieurwissenschaftlichen und weniger "rein wissenschaftlichen" Perspektive.

Die epidemiologische Forschung dient der öffentlichen Gesundheitspolitik und ihrem inhärenten Auftrag der Prävention und des Schutzes der Bevölkerung. Doch das richtige Gleichgewicht zwischen reiner Forschung (und ihren Ergebnissen) und pragmatischen Lösungsansätzen erwies sich während der Coronavirus-Pandemie als erschreckend schwer zu entdecken.

"Ich hatte mir immer vorgestellt, dass Epidemiologen bei dieser Art von Notfällen nützlich sein würden", sagt Jon Zelner, einer der Mitverfasser des Artikels. "Aber unsere Rolle war komplexer und schlechter definiert, als ich zu Beginn der Pandemie erwartet hatte." Als Modellierer von Infektionskrankheiten und Sozialepidemiologe an der Universität von Michigan wurde Zelner Zeuge einer "wahnsinnigen Vervielfachung" von Studien, "von denen viele nur sehr wenig darüber enthielten, was sie im Hinblick auf eine positive Wirkung wirklich bedeuteten". Es habe eine Reihe verpasster Gelegenheiten gegeben, sagt Zelner – verursacht durch eine fehlende Anbindung der von Epidemiologen vorgeschlagenen Ideen, ihren Instrumenten und dem Rest der Welt, der sie eigentlich helfen sollen.

Mitautor Gelman, Statistiker und Politikwissenschaftler an der Columbia University, stellt in der Einleitung des Papers einen Blick auf die Lage dar, der für ihn "das größere Bild" ist. Er verglich den Boom der Hobby-Epidemiologen in der Pandemie mit der Art und Weise, wie ein Krieg jeden Bürger plötzlich zu einem Amateur-Strategen und Geografiespezialisten macht: "Anstelle von Karten mit farbigen Stecknadeln haben wir Diagramme mit den Zahlen der [SARS-CoV-2-]Verbreitung und der Todesfälle; die Menschen auf der Straße streiten über Infektionsraten und Herdenimmunität, so wie sie in der Vergangenheit vielleicht über Kriegsstrategien und Allianzen debattiert haben."

Und neben all den Daten und dem öffentlichen Diskurs – sind Masken noch notwendig oder wie lange hält der Impfschutz an? – kam eine Flut von Unsicherheiten. Um zu verstehen, was gerade passiert ist und was schiefgelaufen ist, führten die Forscher eine Art Nachspielen durch. Sie untersuchten die Instrumente, die zur Bewältigung von Herausforderungen wie der Schätzung der Übertragungsrate von Mensch zu Mensch und der Anzahl der zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Bevölkerung zirkulierenden Fälle eingesetzt werden. Sie bewerteten alles, von der Datenerfassung (die Qualität der Daten und ihre Interpretation waren wohl die größten Herausforderungen der Pandemie) über die Modellentwicklung bis hin zur statistischen Analyse – sowie Fragen der Kommunikation, Entscheidungsfindung und des Vertrauens der Menschen. "Unsicherheit ist bei jedem Schritt vorhanden", schreiben sie.

Und dennoch drücke laut Gelman die Analyse "die Verwirrung, die ich in diesen ersten Monaten erlebte, nicht ausreichend aus". Eine Taktik gegen all die Ungewissheit war die Statistik. Für Gelman ist Statistik "mathematisches Ingenieurwesen" – Methoden und Werkzeuge, bei denen es sowohl um eine Messung von Werten als auch um Forschung geht. Die statistischen Wissenschaftsdisziplinen versuchen zu erhellen, was in der Welt vor sich geht, wobei ein Schwerpunkt auf Variationen und Unsicherheiten liegt. Wenn neue Erkenntnisse eintreffen, sollten sie eigentlich einen iterativen Prozess in Gang setzen, der das bisherige Wissen allmählich verfeinert und die Gewissheit verbessert.

Susan Holmes, eine Statistikerin in Stanford, die nicht an dem Paper beteiligt war, sieht auch Parallelen zur Denkweise der Ingenieure. "Ein Ingenieur aktualisiert ständig sein Bild", sagt sie, und zwar in dem Maße, in dem neue Daten und Werkzeuge verfügbar werden. Wenn ein Ingenieur ein Problem in Angriff nimmt, nutzt er eine Annäherung erster Ordnung (unscharf), dann eine Annäherung zweiter Ordnung (genauer) und so weiter.

Gelman hat jedoch schon früh davor gewarnt, dass die statistische Wissenschaft als eine Art Waschmaschine für Unsicherheiten eingesetzt werden kann – absichtlich oder unabsichtlich werden miserable (unsichere) Daten zusammengewürfelt und so dargestellt, dass sie für die Menschen überzeugend (sicher) erscheinen. Statistiken, die gegen Ungewissheiten eingesetzt werden, "werden allzu oft als eine Art Alchemie verkauft, die diese Ungewissheiten in Gewissheit verwandelt".

Wir haben dies während der Pandemie erlebt. Inmitten des Umbruchs und der Ungewissheit suchten Epidemiologen und Statistiker – Amateure und Experten gleichermaßen – nach etwas Handfestem, um sich über Wasser zu halten. Doch wie Gelman betont, ist es unangebracht und unrealistisch, während einer Pandemie solche Gewissheit haben zu wollen. "Voreilige Gewissheit war Teil der Herausforderung bei Entscheidungen in der Pandemie", sagt er. "Dieses Hin und Her zwischen Ungewissheit und Gewissheit hat viele Probleme verursacht. Es kann befreiend sein, den Wunsch nach Gewissheit loszulassen", sagt er. Und hier kommt zum Teil eine technische Perspektive ins Spiel.