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Was war. Was wird. Der kurze Text zum langen Abschied vom Merkelverse

Die EU-Chefs ehren die "Kompromiss-Maschine" Merkel mit standing ovations. Beim Springer-Chef wird das Merkelverse zum "DDR-Obrigkeitsstaat". Hal Faber rotiert.

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Deutsche Zustände: Ein spintisierender Springer-Verlagschef führt öffentlich Neonazi-Terror auf die Flüchtlingspolitik zurück und kann – privat geäußert – nichts als einen "DDR-Obrigkeitsstaat" entdecken. Und Europa? Applaudiert der Noch-Kanzlerin, für die ein Flüchtling "keine Krise, sondern ein Mensch" war.

(Bild: Palatinate Stock/Shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** Es gibt seltene Planeten-Konstellationen, aber auch seltsame Konstellationen auf unserem Planeten. Facebook zieht es ins Metaverse, das irgendwo in der Europäischen Union liegen soll, während genau diese Union sich gerade mit stehendem Applaus vom Merkelverse verabschiedete. Wie dieser ganz spezielle Kosmos gebaut ist, wird in zahlreichen Abschieds-Interviews der Bundeskanzlerin deutlich. Etwa in diesem großen Abschiedsstück, das hinter einem Penunzenwall liegt. Das fragen die Herren Journalisten Frau Merkel nach der "Flüchtlingskrise" von 2015 und diese antwortet: [i]"Ich vermeide das Wort Flüchtlinge grundsätzlich, weil ein Flüchtling für mich nicht eine Krise war, sondern ein Mensch. Wir hatten es mit Fluchtbewegungen zu tun, die von Schleppern organisiert und ausgenutzt wurden und wir mussten politische Antworten darauf geben."[/] Das ist die Sicht der Politikerin und Wissenschaftlerin Angela Merkel.

*** Ganz anders drückte sich der Chef des größten deutschen Verlages aus, als in Halle ein Neonazi versucht hatte, Juden zu erschießen. Mathias Döpfner schrieb damals darüber, dass "eine rechtsstaatlich sehr zweifelhafte Flüchtlingspolitik" Schuld an solchen Amokläufen habe. Wer so einen Blick auf deutsche Zustände hat, hat deutsche Zustände nicht verstanden. Diese Woche wurde Döpfner mit einem weiteren Satz über den von ihm geschassten Chefredakteur Julian Reichelt bekannt, der "der letzte und einzige Journalist in Deutschland [ist], der noch mutig gegen den neuen DDR-Obrigkeitsstaat aufbegehrt". Das Merkelverse als neuen DDR-Obrigkeitsstaat zu bezeichnen, ist ein starkes Stück. Daran ändert auch die Empörung über eine "Grenzüberschreitung" nichts, weil angeblich aus einer privaten SMS-Kommunikation zitiert. Zu seinem Verlag gehört ein Schmierblatt, das ungeniert einen WhatsApp-Chat eines 11-Jährigen veröffentlichte, dessen vier Geschwister von der eigenen Mutter ermordet worden waren. In einem DDR-Obrigkeitsstaat wäre das nicht möglich gewesen.

*** Und, wie war es denn so im alten BRD-Obrigkeitsstaat? Man kann seit dieser Woche das etwas langatmig in Szene gesetzte Video anschauen, in dem die Verleger Axel Cäsar Springer und Rudolf Augstein den Verleger-Himmel mit seinen Strandkörben verlassen und auf der Erde ihre Verlage besuchen. Sie treffen dort auf eine höchst gemischte Truppe junger Journalisten (w/m/d-LBGTQ) und schließlich auf die Gleichstellungsbeauftragte des Springer-Verlages. Sie erzählt den alten Zauseln etwas von der neuen Unternehmenskultur und sieht eine Diverstitäts-Dividende am Werke, dank der dem Verlag der Sprung in das digitale Zeitalter gelungen ist. Nach 17 Minuten heißt es: "Aber heutzutage ist das Wie des Miteinanders, also die Unternehmenskultur, für den Erfolg genauso wichtig wie die Auflagen. Noch Fragen?" So kann man das auch schildern gegenüber einem Axel Cäsar Springer, der nach dem Bericht von Michael Jürgs (Der Verleger. Der Fall Axel Springer) ein System von Wohnungen unterhielt, in denen er Frauen nicht nur zu einem Diktat bat. Was Axel Springer über einen Verleger sagen würde, der über die Selbstheilungsprozesse für die Stabilisierung von Institutionen in der deutschen Presselandschaft schwadroniert, wissen wir nicht.

*** Langsam geht der Oktober zu Ende, dieser Cyber Security Month, an dem alle ein offenes Ohr für die Cybersicherheit hatten. Was fehlt, ist noch die Entwicklung einer deutschen Cyberaußenpolitik. Das wird im November nachgeholt, zunächst einmal in kleiner Runde. Wo ist eigentlich die Außengrenze von Cyberland? Das ist doch eine spannende Frage in einer Zeit, in der ein irrlichternder Innenminister bei einem seiner letzten Auftritte allen Ernstes ein eigenes "Cyberstrafrecht" forderte. Die Rede vom Recht, das auch in diesem Cyberraum gelten sollte, ist wohl zu matt, da soll nachgeschärft werden mit neuen Cyberstrafen und -Verboten. Wenn es um Rechtsfragen geht, wäre auch die Frage interessant, ob nicht das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik eine eigenständige Behörde werden sollte, die nicht dem Innenministerium unterstellt ist. Wie sieht es mit dem Recht der Öffentlichkeit aus, in IT-Sicherheitsfragen unabhängig beraten zu werden, ganz ohne Weisungsbefugnisse eines Innenministeriums, das für seine Polizeitruppe und den Verfassungsschutz Schwachstellen für die Quellen-TKÜ und die Online-Durchsuchung offen halten will?

*** Nach den Ampel-Gesprächen haben die Vertreter der drei Leuchten ihre Teams für die richtigen Koalitionsverhandlungen benannt. Ampelmäßig von oben nach unten sind interessante Digitalspezialisten und Verhandler in Sachen innerer Sicherheit bei den Roten, den Gelben und den Grünen mit von der Partie. Vielleicht beschert uns das ein unabhängiges BSI, ganz sicher jedoch viele Vorhaben in der Digitalisierung bis hin zu einer neuen KI-Strategie. Da hilft es vielleicht, auf die Wissenschaft zu verweisen, die die Erforschung der künstlichen Intelligenz mit der Alchemie des Mittelalters vergleicht. So, wie einst aus der Alchemie die Chemie entstand, so kann aus den Versuchen mit neuronalen Netzen und anderen Systemen die KI der Zukunft entstehen. Klappt das nicht oder geht es schief, ist es auch kein Problem, zumindest für die Wissenschaft: Die Apokalypse ist ja auch ein netter Forschungszweig. Das Ende der Welt mit Nationalismus und Kolonialismus, mit rassistischen radikalen Gruppen, mit aussterbenden Tieren, mit Geisterbeschwörung und Verschwörungstheorien bietet vielfache Anreize für die Forschung.

Man kann die Frage von gesellschaftlicher Spaltung und Zusammenhalt auch anders angehen. Genau das macht das Bundeskriminalamt mit seiner anstehenden Herbsttagung unter dem Motto "Stabilität statt Spaltung: Was trägt und erträgt die Innere Sicherheit?" So möchte man den "Herausforderungen der aktuellen Fragmentierung im gesamtgesellschaftlichen, aber auch im polizeilichen Kontext" begegnen. Denn auch die Polizei steht unter Verdacht. Das Programm ist bunt gemischt. Es spricht der immer noch amtierende Innenminister Seehofer, aber auch Anette Kahane von der Amadeu-Antonio Stiftung. Gerade ist auf der rechten Seite der CDU am Donnerstag ein Projekt namens The Republic gestartet worden, das unter dem Kampagnen-Motto "Radikale Kräfte bremsen!" als Ziel nannte, Anette Kahane und die Amadeu-Antonio-Stiftung zu zerstören. Das Ziel wurde am späten Freitag wieder gelöscht. Nun will man nur ein undurchsichtiges, mit Steuermitteln gefördertes Aktivisten-Netzwerk zerschlagen und die Gemeinnützigkeit von Greenpeace bekämpfen. Spaltmaterial ist offenbar genug da.

Doch zurück zum Herbstprogramm des BKA: Gegen die Spaltung hilft der gesellschaftliche Zusammenhalt. Als Ausweg sehen die Kriminalisten das Angebot zur digitalen Teilhabe über die "Liquid Democracy", wie sie im sächsischen Augustusburg praktiziert wird. So manche oder mancher wird sich vielleicht daran erinnern, wie Liquid Democracy zeitweilig ein wichtiger Pfeiler in der Politik der Piratenpartei war. Im Namen eines falsch verstandenen Datenschutzes wurde sie innerparteilich so lange als "Gesinnungsdatenbank" bekämpft, bis das Projekt zum Erliegen kam. So entpuppte sich der Ausweg als Sackgasse.

Visualisierung des Mooreschen Gesetzes (Heinz Nixdorf MuseumsForum Paderborn)

(tiw)