"Every": Die Realität hat diese Dystopie längst überholt

Mit "Every" legt "The Circle"-Autor Dave Eggers den zweiten Band seiner Zukunftsdystopie vor. Manches scheint dem Leser dabei bekannt vorzukommen.

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Wir kennen die Chefin des Digitalkonzern Every bereits aus "The Circle". Mae Holland hat in Every inzwischen nicht nur alle großen digitalen Plattformen vereint, sondern kauft jede kreative digitale Start-up-Idee. Das Ergebnis ist eine allgegenwärtige Überwachungsmaschinerie, die die Menschen freudig nutzen – dient sie doch vermeintlich dem eigenen Wohlbefinden, der Sicherheit oder auch gerne mal der Rettung der Welt.

Eggers Heldin Delaney Wells gehört zu einer kleinen Gemeinde von Digitalverweigernden. Sie beherrscht jedoch virtuos die digitalen Tools und hat sich langfristig darauf vorbereitet, sich von Every anstellen zu lassen. Ihr Ziel ist es, den Konzern von innen heraus zu zerstören.

Delaney gelingt es natürlich, eine Everyone zu werden, wie sich die Mitarbeitenden nennen. An ihrer Seite kämpft Wes. Gemeinsam entwickeln die Beiden eine absurde App nach der anderen, die Every – gierig nach neuen Ideen – umsetzt. Delaneys Hoffnung, dass die Menschen merken, wie absurd und bedrohlich diese sind und wie übergriffig Every in ihre menschliche Unabhängigkeit eingreift, erfüllt sich jedoch nicht.

Gleichzeitig begleiten wir Delaney bei ihrer Rotation durch das Unternehmen – was das für einen Zweck verfolgt und wofür Delaney eigentlich ursprünglich eingestellt wurde, bleibt im Dunkeln. So wird die zweite Ebene der Geschichte zu einem planlosen Every-Abteilungs-Roadmovie, bei dem wir immer auf neue skurrile Figuren und Ideen treffen. Putzigerweise hat die Realität Eggers beim Schreiben eingeholt: Als Mark Zuckerberg vor einigen Tagen die Umbenennung seines Konzerns von Facebook in Meta verkündet hat, bezeichnete die US-Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez Meta als „Krebsgeschwür, das eine globale Überwachungs- und Propaganda-Maschine darstellt“. Auch einige von Zuckerbergs Ideen für sein Metaverse lernen wir gemeinsam mit Delaney bei Every kennen: eingescannte Gegenstände für eine eigene virtuelle Welt oder virtuelle Reisen, um das Klima zu schützen.

Wie in "The Circle" nutzt Eggers einfache Sprache für seine Geschichte. Allerdings bleiben in Every auch seine Figuren eindimensional. Gut und Böse sind leicht an Frisur, Kleidung und Physiognomie zu erkennen. Eggers Every-Welt ist – obwohl die Everyones meist in enges, buntes Lycra gehüllt sind – schwarz oder weiß. Selbst Delaney wird nicht greifbar, und es wirkt, als nutze Eggers seine Protagonisten nur, um seine Botschaft von der bösen digitalen Welt zu transportieren. Seine Bemühungen, uns klarzumachen, wie bedroht wir sind, wirken dann irgendwann ermüdend.

Hat man sich durch diese Müdigkeit hindurchgekämpft, nimmt die Geschichte doch noch unerwartet Fahrt auf – und endet mit einem Cliffhanger. Entweder möchte Eggers sich damit noch die Option auf einen dritten Band offenhalten oder in seinem Inneren ist er irgendwie auch ein Everyone: Eine der Stationen, die Delaney bei ihrer Rotation durch Every durchläuft, ist TellTale. Der FictFix-Algorithmus der Abteilung verbessert Literatur – wandelt unsympathische Charaktere in nette Figuren um, optimiert die Struktur der Bücher und errechnet Kennzahlen für maximalen Mainstream. "Kein Buch sollte mehr als 500 Seiten haben, und wenn doch, dann liegt die absolute Obergrenze, die die Leute noch hinnehmen, bei 579", sagt Alessandro. 578 Seiten sind es bis zur Danksagung Eggers.

Dave Eggers: Every. Kiepenheuer & Witsch, 592 Seiten, 25 Euro (E-Book: 19,99 Euro)

(jle)