Open Source: GPL-Rechtsstreit in den USA. Dürfen Dritte den Quellcode einklagen?

Die Software Freedom Conservancy streitet mit TV-Anbieter Vizio wegen GPL-Lizenzverstößen: Ein Präzedenzfall für die Open-Source-Rechtsprechung bahnt sich an.

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(Bild: Shutterstock/Phonlamai Photo)

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Silke Hahn
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In den USA findet zurzeit ein Rechtsstreit über Open-Source-Nutzerrechte statt, der internationale Tragweite erreichen dürfte. Die Software Freedom Conservancy (SFC) hat im Oktober 2021 den Smart-TV-Hersteller Vizio in Kalifornien wegen Verstößen gegen die GPL-Lizenzvereinbarung für quelloffene Software verklagt. In einem Zwischenurteil hat der California State Court nun festgestellt, dass Verstöße gegen die Vereinbarungen der Open-Source-Lizenz GNU GPL v2 auch als Vertragsbruch verhandelbar sind, was erstmals Dritten Klagen ermöglich.

Vizio stellt unter anderem smarte Fernsehgeräte mit eingebauten Computern her, die für das Streamen von Filmen aus dem Internet ausgelegt sind und sich über eine Benutzeroberfläche steuern lassen. Dabei nutzt der Hersteller mindestens 25 Programme, die unter der GNU GPL v2 (General Public Licence in Version 2) beziehungsweise ihrer Schwester, der GNU LGPL (Lesser General Public Licence) in Version 2.1, stehen. Insbesondere Software rund um den Linux-Kernel kommt dabei laut der kalifornischen Richterin Josephine L. Staton zum Einsatz.

Bislang weigerte sich der verklagte Anbieter, den Quellcode seiner Produkte offenzulegen, womit er gegen die GPL-Lizenzvereinbarung verstößt. Strittig war zunächst, ob es sich dabei sowohl um einen Urheberrechtsverstoß als auch um eine Vertragsverletzung handelt und wer gegenüber dem TV-Hersteller eine Offenlegung des Quellcodes juristisch einfordern kann. Wie der deutsche Medien- und Urheberrechtsanwalt Dr. Till Jaeger auf Nachfrage gegenüber heise Developer angab, gilt in den USA ein anderes Vertragsrecht als in Europa: Eine Softwarelizenz sei nicht notwendig auch als Vertrag anzusehen. Oft ist im Einzelfall zu klären, ob eine Lizenzvereinbarung als Vertrag und ein Verstoß als Vertragsbruch zu werten sei.

Die Klagemöglichkeit bei Urheberrechtsstreitfällen sei jedoch beschränkt auf die Urheber des Quellcodes: Entwickler können theoretisch klagen, die Durchsetzung ihrer Open-Source-Rechte komme aber verhältnismäßig selten vor. Dies könne auch daran liegen, dass der Nachweis der Urheberschaft in großen Projekten verhältnismäßig schwierig ist. Jaeger stuft daher den Rechtsstreit in den USA auch als relevant für Europa ein, da auch hier die GPL ein Vertrag zugunsten Dritter sein könnte.

Vordergründig geht es bei dem Prozess um das Recht auf Reparatur, das Nutzern durch das Offenlegen des Quellcodes zu gewähren ist. Für Entwickler, aber insbesondere auch für Nutzer und Hersteller von Open-Source-Software ist dabei entscheidend, ob Dritte den Anspruch auf Offenlegung des Sourcecodes unter einer freien Lizenz durchsetzen können. Besäßen künftig auch Verbände ein Klagerecht, würde dies das Machtgefüge zugunsten der Nutzer verschieben. Das Klagerecht Dritter könnte insgesamt größere Fairness für Verbraucher herstellen, wie auch Matthias Kirschner, Präsident der gemeinnützigen Free Software Foundation Europe (FSFE) im Gespräch mit heise Developer erläuterte.

Die Klage zielt auf die Durchsetzung des Rechts Dritter auf den Zugang zum Quellcode, der dem ausführbaren und maschinenlesbaren Code entspricht, der sich auf Vizios Geräten befindet und unter die GNU-Lizenzen fällt. Dritte konnten solche Verstöße bislang nicht vor Gericht bringen. Wie Matthias Kirschner von der FSFE ergänzt, stellt die Präambel der GNU GPL klar, dass Nutzerinnen und Nutzer mehr Rechte erhalten sollen: Hierdurch solle unter anderem auch ein Machtausgleich zwischen Entwicklern und Nutzern stattfinden. Die Frage, was man mit freier Software ("frei nicht im Sinne von gratis, sondern im Sinne von frei verfügbar", so Kirschners Aussage, die im Sinne der Freie-Software-Definition der FSF steht) tun kann und was nicht, ist auch eine Machtfrage. Freie Softwarelizenzen sollen ihm zufolge garantieren, dass "Länder, Unternehmen und Organisationen Ziele umsetzen können, wie sie es sich wünschen – nicht nur, wie die ursprünglichen Entwickler es sich gedacht hatten. Das ist letztlich eine Frage von Demokratie und digitaler Souveränität."

Verbände wie die Software Freedom Conservancy und sonstige Dritte konnten bislang Urheberrechtsverstöße nicht vor Gericht bringen. Daher klagte die SFC (als Nutzerin) stellvertretend für andere Nutzer auf Vertragsbruch und versucht auf diesem Wege, einen Präzedenzfall gegen unfaire Nutzung von Open-Source-Software herzustellen. Laut SFC-Stellungnahme handelt es sich um den ersten Rechtsstreit mit Fokus auf die individuellen Rechte, die sich aus der GPL für Nutzer ergeben (third-party beneficiaries). Vizio hatte beim Versuch, die Klage abzuwenden, auf Behandlung nach dem Urheberrecht bestanden. Dadurch wäre die SFC als klagende Partei disqualifiziert gewesen, denn sie verfügt nicht über die Urheberrechte an dem von Vizio verwendeten Sourcecode.

Nach der Tragweite des Falles befragt spricht Matthias Kirschner von einem Mythos, wenn viele Hersteller annehmen, freie Software sei ungeschützt oder "nicht rechtssicher". Fälle wie der Prozess gegen den Smart-TV-Produzenten Vizio könnten das Bewusstsein dafür stärken, dass freie Lizenzen vertragliche Kraft haben. Auch die Schmerzgrenze, gegen Verstöße vorzugehen, könnte dabei sinken. Bislang hätten Hersteller Lizenzen oftmals ignoriert, da es selten zu aussichtsreichen Klagen kam. Nur in Fällen, in denen Anbieter über Jahre hinweg kontinuierlich "alles ignorierten", so Kirschner, kam es gelegentlich zu Gerichtsprozessen.

Was genau der Ausgang des Prozesses für andere Länder bedeuten wird, darüber mag Kirschner nicht orakeln. Er stellt den Fall aber in einen größeren Kontext: So berühre das Recht auf Reparatur die gesamte Nachhaltigkeitsdebatte, und die faire Nutzung von Open-Source-Software habe auch demokratiepolitische Tragweite. Die Software Freedom Conservancy besitzt seiner Einschätzung nach in dem Gebiet als Vertreterin von Open-Source-Interessen hohe Glaubwürdigkeit und hat sich laut eigenen Angaben Ethical Technology sowie die Nachhaltigkeit und Reparaturfähigkeit technischer Produkte auf die Fahnen geschrieben.

"Das Urteil ist eine Zäsur in der Geschichte der Copyleft-Lizenzierung", bemerkt Karen M. Sandler, Executive Director der Software Freedom Conservancy. Unter Copyleft-Lizenzen versteht man eine Klausel in urheberrechtlichen Nutzungslizenzen, die die Lizenznehmer verpflichtet, jegliche Bearbeitung des Werks unter die Lizenz des ursprünglichen Werks zu stellen. Sie soll verhindern, dass veränderte Fassungen des Werks mit Nutzungseinschränkungen weitergegeben werden, die das Original nicht hat. Das Copyleft setzt voraus, dass Vervielfältigungen und Bearbeitungen in irgendeiner Weise erlaubt sind.

Copyleft ist ein Wortspiel, das durch das Ersetzen von "rechts" durch das Gegenteil "links" einen Gegensatz zum englischen Begriff Copyright (Urheberrecht, wörtlich: Kopierrecht) konstruiert. Analog zur Vertauschung der beiden Begriffe wird auch die urheberrechtliche Situation umgekehrt: Das Recht zum Kopieren eines Werks bleibt nach dessen Bearbeitung erhalten, während es durch das Copyright eingeschränkt werden könnte – dieser Kniff setzt das Urheberrecht ein, um etwas zu erreichen, was dessen üblicher Zweckbestimmung entgegengesetzt ist. Darüber hinaus schützt das Copyleft auch die übrigen Freiheiten einer Lizenz nach der Bearbeitung des Werks, so bei freier Software den freien Zugang zum Quellcode. Der Ausdruck Copyleft entspricht weitgehend der Bezeichnung share alike, die bei Creative-Commons-Lizenzen verwendet wird.

Eine Copyleft-Lizenz wie die GPL soll gewährleisten, dass Endnutzer die Freiheit haben, den gesamten Quellcode zu betreiben, zu untersuchen, zu teilen und zu modifizieren. Unter anderem spielt das für Updates und die herstellerunabhängige Reparaturfähigkeit technisch komplexer Geräte wie Fernseher und Smartphones eine Rolle. Die Klägerin strebt ausdrücklich keinen finanziellen Schadensersatz an, sondern verlangt vom TV-Hersteller Vizio das spezifische Offenlegen der technischen Produktinformationen, und zwar für alle Kunden.

Die Software Freedom Conservancy fühlt sich durch das Gerichtsurteil darin bestärkt, dass GPL-Vereinbarungen zugleich Copyright-Lizenzen und vertraglich bindende Vereinbarungen darstellen. Laut SFC liegt der inhaltliche Fokus des Falls auf der Nachhaltigkeit und Fairness technischer Produkte, die Open-Source-Software einsetzen.

Durch das Zurückweisen der Klage an den ursprünglich angerufenen Gerichtshof für Vertragsfälle bleibt die SFC als klagende Partei im Boot. Unabhängig vom Ausgang des Prozesses, der sich laut Kirschner und Jaeger über Jahre hinziehen könnte, können Verfechter des rechtssicheren Einsatzes von freier Software das Zwischenurteil als Etappensieg auffassen.

Das amerikanische Recht kann zwar laut Experten keinen juristisch bindenden Präzedenzfall für Europa schaffen. Die Neubewertung von Verstößen gegen die Lizenzvereinbarungen freier Software als möglicher Vertragsbruch schafft aber neue Tatsachen. Sie ermutigt Verbände, Nutzer und Hersteller zum Beschreiten des Rechtswegs, wenn unter FOSS-Lizenz stehender Quellcode trotz großer außergerichtlicher Bemühungen nicht wie von der Lizenz gefordert zur Verfügung gestellt wird, wie Matthias Kirschner meint. Der weitere Verlauf und der Ausgang des Streits sind daher auch in Deutschland und Europa mit Spannung zu erwarten.

Die Begründung des Gerichtsurteils, das den Fall an den für Vertragsrecht zuständigen Gerichtshof zurückverweist, ist im Gerichtsrepository öffentlich einsehbar, und auf der Website CourtListener sind die juristisch relevanten Dokumente rund um den Fall zusammengestellt. Künftige Aktualisierungen werden auch hier zu finden sein. Weitere Informationen bietet der Blogeintrag der SFC zur eingereichten Klage aus Oktober 2021, ein Update dazu von Dezember 2021. In dem Beitrag erläutert Bradley M. Kuhn, Policy Fellow der Software Freedom Conservancy, die Bedeutung des Falls für das Recht auf Reparatur von Software und softwarehaltigen Produkten.

Die Software Freedom Conservancy ist eine in New York ansässige und spendenfinanzierte Non-Profit-Organisation mit dem Kernthema Ethical Technology – Technik nach Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit, Fairness und ethischer Erwägungen. Ziel ihrer Aktivitäten ist nach eigenen Angaben das Recht auf Reparatur, Verbesserung und Neuinstallation von Software. Der Verein fördert und vertritt diese Rechte durch das Unterstützen von FOSS-Projekten (Free and Open Source Software). Dazu gehört unter anderem das juristische Klären und Verteidigen von Copyleft-Lizenzen. Die ebenfalls gemeinnützige Free Software Foundation Europe (FSFE) verfolgt ähnliche Ziele und Anliegen, worüber ihre Website genauer informiert.

(sih)