Digital Twin: IT-Prozesse prüfen und absichern mit dem Graphdatenbankmodell

Um die komplexe IT-Umgebung in Echtzeit zu überwachen, hat ein Einzelhandelskonzern ein Abbild davon als Digitalen Zwilling in einer Graphdatenbank modelliert.

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(Bild: bestber/Shutterstock.com)

Lesezeit: 19 Min.
Von
  • Stefano Marmonti
Inhaltsverzeichnis

Unternehmen sind auf zuverlässige und immer schneller verfügbare Daten angewiesen, um wachsende Applikations-Landschaften auch in großen und komplexen IT-Netzwerken effizient und sicher verwalten zu können. Die verantwortlichen Stakeholder rufen die notwendigen Informationen zur Datenvisualisierung aus einer Vielzahl an Datenbanken und Rechenprozessen ab, um daraus geschäftskritische Entscheidungen abzuleiten. Wie aber lässt sich der ordnungsgemäße Zustand sämtlicher IT-Prozesse im Unternehmen kontinuierlich überprüfen und aufrechterhalten?

Große Datensysteme sind aufgrund vielfältiger Abhängigkeiten, die Anwendungen und Datenbanken durchziehen, von Natur aus komplex und störanfällig. Tritt ein Fehler in einem Bericht oder einem Datendashboard zu Tage, löst er eine zeit- und arbeitsaufwendige Suche nach der Ursache aus, um den Auslöser zu isolieren, bei dem es sich beispielsweise um eine falsch konfigurierte App, eine beschädigte Datei oder einen Codierungsfehler handeln kann.

DevOps-Teams benötigen für diese Aufgabe einen Gesamtüberblick über ihre IT-Landschaft. Ansonsten fällt die Fehlersuche schwer und Entwicklungsprozesse verlangsamen sich, weil die betreffenden Teams mehr Zeit für das Testen von Anwendungen als für die eigentliche App-Entwicklung aufbringen müssen. Ein umfassendes Echtzeit-Systemmodell schafft die Voraussetzungen, Fehler nicht nur schnell nachzuverfolgen, sondern auch mögliche Szenarien und Auswirkungen einzelner Probleme testweise auszuführen und die Entwicklungsabläufe zu beschleunigen.

Ein dazu geeignetes Systemmodell hat sich unter der Bezeichnung Digital Twin (digitaler Zwilling) etabliert. Es bildet eine bestimmte Systemarchitektur ab und überwacht den Zustand einzelner Komponenten in Echtzeit. Die Modellierung einer IT-Landschaft als digitaler Zwilling erlaubt es DevOps-Teams, Fehler zu erkennen und auf Basis realer Daten und Situationen in die Zukunft zu projizieren. Die praktische Umsetzung einer solchen Architektur zeigt das im Beispiel eines europäischen Einzelhandelsunternehmens, das seine IT-Landschaft als Abbild in Form eines Digitalen Zwillings mit Hilfe einer Graphdatenbank modelliert hat.

Ein digitaler Zwilling ist ein Computermodell, das ein digitales Abbild eines physischen Objekts oder Prozesses erstellt und in Echtzeit aktualisiert. Das ursprüngliche Konzept stammt aus dem Jahr 2002 und bezieht sich auf die Modellierung komplexer Technikprobleme. Die NASA soll 2010 die erste praktische Definition eines Digitalen Zwillings erstellt haben, um physikalische Eigenschaften von Raumfahrzeugen zu simulieren. In dieser Hinsicht sind Digital Twins eine Weiterentwicklung computergestützter Entwurfs- oder Designmethoden (Computer Aided Design, CAD), die von einem statischen zu einem dynamischen System übergeht.

Die Einsatzszenarien reichen inzwischen vom Supply-Chain-Management, Einzelhandel oder Finanzsektor bis zu Energie- und Telekommunikationsanwendungen, Umweltmodellierung, Fertigung, Betrugserkennung und Cybersicherheit. Mit dem Ziel, agile Reaktionsabläufe bei Angebots- und Nachfrageschwankungen zu integrieren, um sowohl Produktivität als auch Umsatz zu steigern und gleichzeitig unternehmerische Risiken zu senken, erstellte zum Beispiel der Automobilhersteller Jaguar Land Rover (JLR) einen Graph-basierten Digitalen Zwilling für sein Supply-Chain-Management.

Das Konzept ermöglicht die detaillierte Analyse der Beziehungen zwischen verschiedenen Geschäftsbereichen – sowohl intern als auch extern. Bis auf die Ebene einzelner Komponenten lassen sich Bestände und Assets nachverfolgen, Prozesse analysieren, Fehler entdecken und Strategien zur Minimierung von Störungen und systembedingten Erschütterungen entwickeln. Im Ergebnis konnte JLR die Bearbeitung komplexer Supply-Chain-Anfragen, die zuvor bis zu drei Wochen dauerte, nun durchschnittlich binnen 45 Minuten lösen. Der Digital-Twin-Ansatz soll in der Folge zu einem um rund 100 Millionen Britische Pfund gesteigerten Jahresgewinn beigetragen haben (weitere Details dazu präsentierte Harry Powell, Director Data and Analytics bei Jaguar Land Rover, im Rahmen seiner Keynote beim Graph+AI Summit 2021).

Die Einführung einer Graphdatenbank ermöglichte JLR die Konsolidierung geschäftskritischer Daten aus unterschiedlichen Quellen wie relationalen Datenbanken, ERP- und Buchhaltungssystemen sowie Verkaufsdaten, sodass erstmals ein "lebendes" Modell der Liefer- und Fertigungskette des Unternehmens zur Verfügung stand. Inzwischen nutz JLR dieses Modell, um Abläufe in Echtzeit einzusehen, unterschiedliche Szenarien zu modellieren und die zukünftige Produktion vorauszuplanen.

Das Konzept des Digitalen Zwillings, das physische Prozesse und Daten über die reale Welt umfasst, ist auch auf IT-Landschaften anwendbar. Von Informationen, die im Data Warehouse oder über Logistik-Netzwerke und -Anwendungen laufen, ist es nur ein kleiner Schritt zum Modellieren komplexer IT-Systeme durch Abstraktion physischer Prozesse. Die Kunden sind in diesem Szenario Endanwender – unter anderem IT-Manager und Business-Analysten, die Informationen aus den Rohdaten der Anwendungsprotokolle und des Netzwerkdatenverkehrs ziehen.

Im produktiven Betrieb sammelt ein Digitaler Zwilling alle Daten über den Zustand einer IT-Komponente, um den Datenbetrieb realitätsnah spiegeln zu können. Auf diese Weise kann ein Unternehmen den Zustand seiner digitalen Assets überwachen, Fehler nachverfolgen und Testszenarien ausführen, ohne den realen Systembetrieb zu beeinträchtigen.

Zur Modellierung des IT-Betriebs lassen sich Graphdatenbanken einsetzen, die die komplexen Netzwerke der verknüpften Datenprozesse und Geschäftsaktivitäten eines Unternehmens abbilden – auch branchenübergreifend. Trotz der Komplexität der Informationen und der unterschiedlichen Anforderungen der Endbenutzer an die Datenprodukte sind die IT-Herausforderungen dabei auch in verschiedenen Branchen ähnlich.