Mut zur kreativen Unschärfe: So beflügeln Sie die Fantasie des Betrachters

Christian Frank gibt Anregungen, wie Sie passende Motive für bewusst unscharf geschossene Foto entdecken und daraus spannende Bilder komponieren.

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, Alle Bilder: Christian Frank

(Bild: Alle Bilder: Christian Frank)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Michael Frank
Inhaltsverzeichnis

Ein Bild muss nicht immer scharf sein, um interessant und gut zu sein. Das gestochen scharfe Foto erscheint zwar inzwischen normal, denn die heutige Kameratechnik ermöglicht es durch ihren Fortschritt bei den Sensoren und den immer präziseren und schnelleren Autofokus-Systemen. Dies ist für Fotografen natürlich eine große Hilfe, doch wenn Pixel vor Poesie gehen, verlieren wir etwas Wichtiges in unseren Bildern.

c't Fotografie 2/24

In diesem Artikel zeige ich Ihnen Beispiele, mit denen Sie Ihr Publikum zum längeren Betrachten verführen können, zum Schmunzeln, wenn das Bild durchschaut wird oder einem Hineinfühlen in die Atmosphäre des Ungezeigten.

Bokeh - Unschärfe mit einfachen Mitteln

Starke Schärfeverläufe lassen Bilder räumlicher wirken, vor allem dann, wenn helle Glanzlichter im Hintergrund strahlen. In der Unschärfe werden diese zu weichen Zerstreuungskreisen und somit zu schönem "Bokeh". Objektive, die das sehr gut können, sind oft richtig teuer. Wir zeigen neben dem klassischen Handwerkszeug deshalb auch zwei nicht ganz so bekannte Techniken für extremes Bokeh.

Hier geht's zum Artikel: Bokeh: Unschärfe mit einfachen Mitteln

Bei dieser vermeintlich weniger anspruchsvollen, da unscharfen Abbildungstechnik ist die kreative Fähigkeit des Fotografen gefragt, die passenden Motive zu entdecken. Denn die liegen hinter der Schärfe der realistischen Wiedergabe. Je weiter Sie sich auf das Gebiet der kreativen Unschärfe wagen, desto mehr wird Ihre Fantasie und die Ihrer Bildbetrachter erblühen.

Sollten Sie einmal das Vergnügen haben, den Speicher eines alten Hauses fotografisch zu erkunden, werden Sie wahrscheinlich auf viele Zeugen vergangener Epochen stoßen, etwa die einer Kleiderpuppe. Diese diente vor langer Zeit einer Schneiderin, ein einfaches Leinenhemd kleidet die Puppe, ein gedrechselter Stab schließt die Figur nach oben hin ab. Sauber ausgeleuchtet ist dies sicherlich ein schönes Motiv, doch auch ein wenig gewöhnlich und eher geeignet für eine Dokumentation als für ein Bild, das die Fantasie anregen soll.

Der Trick: Lassen Sie sich darauf ein, die Fokus-Automatik abzuschalten und mit Unschärfe und Belichtung zu spielen. Nun verwandelt sich die Kleiderpuppe überraschend in Fantomas oder Batman, zu einem Wesen, das sich gefährlich vor dem Gegenlicht des Fensters zeigt. Ihrer Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Unsere menschliche Fähigkeit der Mustererkennung spielt uns hier einen Streich. Wir interpretieren die unscharfe Silhouette eher kriminalistisch als realistisch.

Es ist ein großes Vergnügen mit einem Kind gemeinsam in den Wolkenhimmel zu schauen und es dabei frei erzählen zu lassen, was es in den Wolken alles sieht. Das können einzelne Figuren, aber auch ganze Geschichten sein. Manchmal wird man dabei etwas neidisch, ob dieser kindlichen Fähigkeit des assoziativen Schauens und Staunens. Wir Erwachsenen sehen die Welt eher analytisch und rational. Das folgende Bild zeigt einfach die Silhouette eines Baums:

Scharf abgebildet, erkennt der Beobachter sofort, dass es sich um einen Baum handelt.

Aber hätten Sie einen Wolf in der Baumkrone erkannt? Wenn nein: Hier hilft die Technik des unscharfen Sehens, indem wir unsere Kamera auf manuellen Fokus einstellen, die scheinbar so präzise Umwelt ihrer Rationalität entreißen und zauberhaftes Getier entdecken, das Sie sogar fotografisch festhalten können.

Erkennen Sie den Wolf? Ein Trick zum assoziativen Sehen ist es, die Augen zuzukneifen, bis Sie unscharf sehen. Das hilft manch Interessantes zu entdecken.

Eine besonders schöne Form der Unschärfe ist das Bokeh. Der Ausdruck stammt aus dem Japanischen (暈け) und meint unscharf oder verschwommen. Der Effekt kommt nicht durch eine unscharfe Fokussierung zustande, sondern die bekannten Lichtkreise entstehen durch Lichtbrechungen an den Blendenlamellen Ihres Objektivs. Je offenblendiger Ihr Objektiv ist, also beispielsweise f/1.2 oder f/1.8, desto deutlicher wird das Bokeh. Ein schönes Bokeh ist ein Qualitätsmerkmal und spielt bei der Konstruktion eine große Rolle. In diesem Beispiel aus senkrechten Linien und weiß funkelnden Kreisen sind trotz der Unschärfe Schilf und Gewässer schön zu erkennen.

Das glitzerndeBokeh gibt dem Bildeinen verträumten Eindruck.

Das Uneindeutige ist eindeutig das Interessantere, zumindest wenn wir uns im poetischen Bilderraum bewegen. Diese etwas gewagte Aussage möchte ich Ihnen an diesem Beispiel veranschaulichen. Hier wurde ein Unschärfeeffekt angewandt, der auch Blur effect genannt wird. Damit wird das Verwaschene bezeichnet, welches scheinbar über dem Foto liegt. Es erinnert aber auch an die Sicht durch einen Tränenschleier. So betrachtet gewinnt dieses scheinbar "nur" unscharfe Bild an poetischer Tiefe.

Eine Person ist zu sehen, wahrscheinlich eine Frau. Kommt sie auf den Betrachter zu? Geht sie ins Bild hinein? Und was erwartet die Person hinten im Wald, indem so augenfällig ein heller Schein sie empfängt? Die Unschärfe im Bild regt die Fantasie an, allein dadurch, dass die Bildaussage so uneindeutig ist. Wir fangen unwillkürlich an, die Szene zu interpretieren. Achten Sie auf den richtigen Grad der Unschärfe. Zu viel davon lässt das Auge schnell weiterziehen, zu wenig davon macht das Bild weniger interessant.

Der Hund lief nicht schneller, als ich mit der kurzen Belichtungszeit einfangen konnte. Doch für einen noch dynamischeren Eindruck dieses Australien Shepherds wendete ich einen Zoom-Effekt auf dessen Körper an. Das Gesicht des Hundes bleibt als Ausgangspunkt des Effekts ohne Verzerrung.

In der Fotografie gibt es drei wesentliche Gründe für Unschärfe. Erstens die Fokusunschärfe durch Defokussierung, wenn also die Entfernung zum Objekt nicht exakt eingestellt ist.

Mit der künstlerischen Absicht, das Bild "Verzauberndes Venedig" zu erschaffen, habe ich ein Foto venezianischer Gondeln editiert. Durch eine versetzte Überlagerung der gleichen Aufnahme, die in ihren Helligkeitswerten unterschiedlich bearbeitet wurden, entstand eine scheinbar unscharfe und bewegte Szene in träumerischem Schwarz-Weiß.

Zweitens die Bewegungsunschärfe. Hier findet eine Bewegung des Motivs während der Belichtung statt. Und drittens die Abbildungsunschärfe. Diese hat optische Gründe, beispielsweise sind es Abbildungsfehler des Objektives, die sogenannten Aberrationen.

Beim Bild der Wunderkerzen sehen Sie ein klassisches Beispiel für Bewegungsunschärfe. Bei der Aufnahme nutze ich eine lange Belichtungs-zeit von etwa drei Sekunden. Die Kinder bewegten sich während der Belichtung und sind unscharf und schemenhaft abgebildet. Der Funkenflug ist zwar auch in Bewegung, wird aber scharf abgebildet, da er blitzartig hell seine Spur auf dem Kamerachip hinterlässt.

Hinzu kommen alle Möglichkeiten der nachträglichen Bildbearbeitung. Ein Beispiel hierfür ist der laufende Hund:

Wir deuten die Staffelung stark unterschiedlicher Schärfe und Unschärfe als unbewegte und verwehte Blätter als Stille und Bewegung.

Dieses Ensemble von Blättern mutet im ersten Moment ebenfalls als eine Aufnahme mit Bewegungsunschärfe an. Die fotografische Absicht dahinter war, Stille und Bewegung zu visualisieren. Der Fokus liegt auf einem Blatt mit nur sehr geringerer Schärfentiefe, realisiert durch ein Makroobjektiv. So scheint der Vordergrund in eine Bewegungsunschärfe getaucht zu sein. (keh)