Vorratsdatenspeicherung: Hohe Gefahr des Missbrauchs

Alle vom Verfassungsgericht befragten Experten sind sich einig, dass ein ungerechtfertigter Zugriff auf die gespeicherten Telekommunikations-Verbindungsdaten nicht zu verhindern ist. Auch das Justizministerium will Missbrauch nicht ausschließen.

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Sachverständige schätzen die Gefahr des Missbrauchs der von Providern verdachtsunabhängig auf Vorrat zu speichernden Telekommunikations-Verbindungsdaten als hoch ein. So sind sich alle neun vom Bundesverfassungsgericht im Hauptverfahren gegen die flächendeckende Protokollierung von Nutzerspuren befragten Experten und Verbände einig, dass ein ungerechtfertigter Zugriff auf die sechs Monate aufzubewahrenden Verbindungs- und Standortdaten nicht zu verhindern ist. Selbst das Bundesjustizministerium räumt in seiner Stellungnahme (PDF-Datei) ein, dass eine "vollständige Verhinderung" einer Zweckentfremdung der Datenhalden nicht möglich sei. Ein missbräuchlicher Zugriff an sich Berechtigter könne allenfalls durch Protokollierungen erkennbar und somit für die Zukunft erschwert werden.

Auch der Branchenverband Bitkom beklagt (PDF-Datei) einen nicht optimalen Schutz vor missbräuchlichen Abfragen der sogenannten Verkehrsdaten. Die verpflichteten Telekommunikations-Anbieter müssten ausführliche Sicherheitskonzepte vorlegen. Zudem erfolge bei ihnen regelmäßig eine "technische und organisatorische Trennung der Datenbanken sowie der zuständigen Fachabteilungen". Die eingesetzte Systemarchitektur sehe für die interne und externe Kommunikation den Einsatz von Verschlüsselungstechnologien vor. Allerdings sei es in der Praxis oftmals kaum möglich, die Berechtigung eines Auskunftsersuchens der Sicherheitsbehörden "abschließend zu prüfen". Dies läge auch daran, dass die "Bedarfsträgern" unterschiedliche Formulare verwendeten. Verbesserungen könnte der Lobbyvereinigung zufolge der Einsatz elektronischer Signaturen bringen.

Als typische Fallgruppen bei mithilfe von Telekommunikation begangenen Straftatbeständen, in denen Ermittlungen ohne Rückgriff auf Vorratsdaten im Wesentlichen leer laufen, nennt der Bitkom Beleidigungen, Verleumdungen oder verbal-sexuelle Belästigungen, "internetbasierte Verletzungen von Urheberrechten" sowie Betrugsszenarien wie Bestellungen unter falschem Namen, Kreditkartenmissbrauch, Phishing oder Identitätsdiebstahl. Einen Zugriff auf Vorratsdaten zur Beantwortung zivilrechtlicher Auskunftsansprüche von Rechtehaltern hat der Gesetzgeber aber nicht erlaubt. Gleichwohl ziehen "einige Mitgliedsunternehmen" laut der Stellungnahme zumindest die von ihnen zur "Störungsabwehr" bis zu sieben Tage lang gespeicherten Verbindungsdaten "auch zur Beauskunftung im Rahmen von Verfahren wegen Verletzungen des Urheberrechts" heran. Die dabei genutzten IP-Adressen würden aber "strikt" physisch getrennt gehalten von der Datenbank für die Vorratsdaten.

Weiter hält der Verband eine Verknüpfung der anlasslos aufzubewahrenden Verkehrsdaten mit anderen personenbezogenen Informationen und eine damit einhergehende Profilbildung etwa beim Roaming, bei der Nutzung identifizierbarer Endgeräte wie Autotelefone oder von Diensten mit Ortsbezug für möglich. Informatikprofessoren und der Chaos Computer Club hatten in diesem Zusammenhang bereits in ihren vorab publizierten Gutachten vor unkontrollierbaren Überwachungsmöglichkeiten gewarnt.

Der Berliner Datenschutzbeauftragte Alexander Dix befürchtet in seinen Ausführungen (PDF-Datei), dass "bei nächster Gelegenheit die Forderung nach einer präventiven anlasslosen Speicherung von Kommunikationsinhalten erhoben wird". Das Bundesverfassungsgericht solle die Verfassungsbeschwerde daher nutzen, um "eine absolute Grenze der Überwachung technisch vermittelter Kommunikation und ihrer näheren Umstände zu ziehen".

Umstritten ist unter den Experten, ob nicht-kommerzielle Dienste etwa für E-Mail oder zur Anonymisierung der Kommunikationsspuren allgemein von der Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung ausgenommen sind. Die Bundesnetzagentur sieht dafür keine Veranlassung, während die EU-Kommission davon ausgeht. Das Justizministerium geht davon aus, dass zumindest öffentliche, nicht gegen Entgelt angebotene Internetzugänge von Restaurants oder Privatpersonen keine Daten auf Vorrat sammeln müssen. Uneinheitlich beurteilen die Sachverständigen auch die Frage, ob Interessierte Auskunft über die zur eigenen Person gespeicherten Kontakt- und Bewegungsdaten erhalten dürfen. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar fordert hier eine gerichtliche Klärung.

Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, der die "Massenbeschwerde" in Karlsruhe gegen die umfassende Aufzeichnung der Nutzerspuren initiiert hat, rief im Rahmen der Veröffentlichung der Expertenmeinungen alle Bürger noch einmal zur Teilnahme an der für den 12. September geplanten Großdemonstration in Berlin gegen den Überwachungswahn auf. Die Kundgebung unter dem Motto "Freiheit statt Angst" finde dieses Jahr zwei Wochen vor der Bundestagswahl statt. Es sei wichtig, ein Signal gegen die von Schwarz-Rot beschlossenen Sicherheitsgesetze abzugeben.

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(Stefan Krempl) / (jk)