Spielend forschen

Kinder sind die geborenen Entdecker - werden von überforderten Erziehern und Lehrern aber oft ausgebremst. Die Frühpädagogik-Pionierin Professor Hilde Köster verrät, wie es besser geht.

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Von
  • Constanze Hübner

Dieser Text ist der Print-Ausgabe 10/2009 von Technologie Review entnommen. Das Heft kann, genauso wie die aktuelle Ausgabe, hier online portokostenfrei bestellt werden.

Kinder sind die geborenen Entdecker – werden von überforderten Erziehern und Lehrern aber oft ausgebremst. Die Frühpädagogik-Pionierin Professor Hilde Köster verrät, wie es besser geht.

Seit sechs Jahren gibt es eine – allerdings freiwillige – akademische Ausbildung für Erzieherinnen und Erzieher. Mittlerweile existieren deutschlandweit rund 50 solcher Studiengänge, 20 weitere sind in Vorbereitung. Naturwissenschaftliche, technische und mathematische Inhalte sind bisher nur in wenigen Studiengängen aufgenommen. Hilde Köster ist eine der Pionierinnen in diesem Bereich. In Deutschland war sie die erste Hochschullehrerin mit einer naturwissenschaftlich ausgerichteten Professur in diesem Gebiet. Seit April 2009 ist Hilde Köster Professorin für Frühe Bildung und Sachunterricht mit dem Schwerpunkt Naturwissenschaften, Technik und Mathematik an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd.

Technology Review: Frau Professor Köster, warum beschäftigen Sie sich mit der naturwissenschaftlichen und technischen Bildung in der frühen Kindheit?

Prof. Hilde Köster: Wir haben Wissenschaftler gefragt, wann ihr Interesse für die Wissenschaft geweckt worden ist. Bei rund 80 Prozent war das in der Kindheit – etwa dadurch, dass sie sich über natürliche Phänomene gewundert haben, sie einen Experimentierkasten geschenkt bekommen oder die Eltern sie angeregt haben. Wenn die Kindheit vorbei ist, ist es viel schwerer, noch Interesse an naturwissenschaftlichen Fächern zu wecken. Was für Chancen da vergeben werden! Hat ein Kind aber früh genug eine neugierige, offene Haltung gegenüber Naturphänomenen erlernt, geht die auch nicht so schnell wieder verloren. Das muss ja noch nicht zur Folge haben, dass aus diesen Kindern nur Naturwissenschaftler oder Techniker werden. Aber überhaupt die Chancen bei den Kindern zu wahren, das ist ein wichtiges Anliegen von mir.

TR: Muss das denn tatsächlich schon im Vorschulalter sein?

Köster: Kleine Kinder muss man gar nicht an Naturwissenschaften heranführen, sie bringen eine forscherische Haltung und sogar eine Art physikalisches Grundwissen mit auf die Welt. Geben Sie mal einem Kleinkind einen Löffel in die Hand: Es schlägt damit dann auf den Tisch und auf ein Buch und stellt irgendwann fest, dass unterschiedliche Dinge unterschiedlich klingen. Schon bei sehr kleinen Kindern können Sie feststellen, dass sie das ganz systematisch ausprobieren. In solchen Momenten kommt es darauf an, dass Eltern oder Erzieher das auch als Lernen wahrnehmen und eine Umgebung schaffen, in der das Kind solche Erfahrungen sammeln kann.

TR: Ab wann besteht die Gefahr, Kinder zu überfordern?

Köster: Wenn Erwachsene es erzwingen wollen, dass Kinder ganz viel lernen. Der Physikdidaktiker Martin Wagenschein hat das ein "Ziehen an den Halmen" genannt. Es geht eben nicht darum, die Kinder andauernd in eine Richtung zu drängen und ständig mit naturwissenschaftlichen Experimenten zu überfrachten. Da muss auch hinterfragt werden: Was ist sinnvoll, und ab wann passt es gar nicht mehr zu dem, was die Kinder interessiert?

TR: Das setzt voraus, dass auch die Erzieherinnen und Erzieher eine gewisse Ahnung von der Materie haben...

Köster: Genau. Für viele unserer Studierenden waren die naturwissenschaftlich-technischen Bereiche Horrorfächer und eng mit Frustrationen und schlechten Noten verbunden. Das führt dann zu einer Vermeidungshaltung gegenüber naturwissenschaftlichen und technischen Themen. Solange sie es nicht schaffen, ihre Distanz zu überwinden, werden sie auch später mit Kindern nie in solche Bereiche reingehen.

TR: Wie sind Sie persönlich in den Bereich der frühkindlichen Technik-Pädagogik reingerutscht?

Köster: Ich selbst habe während meiner eigenen Schulzeit Ähnliches erlebt wie die Studierenden: Eigentlich spannende Inhalte wurden frühzeitig mathematisiert, es gab kaum Bezüge zur eigenen Lebenswelt, Fragen wurden oft mit dem Hinweis abgetan, dass man diese oder jene Aussage eben akzeptieren müsste. Das war nie meine Sache. Als ich dann Lehrerin in der Grundschule war, bemerkte ich irgendwann, dass ich Inhalte aus der Physik, der Technik oder der Chemie niemals thematisierte, dass aber die Kinder ein großes Interesse an diesen Phänomenen und Experimenten hatten. Daraufhin habe ich begonnen, mich intensiv mit dem naturwissenschaftlichen Teil des Sachunterrichts zu befassen.

TR: Sie bieten innerhalb der Erzieherinnen-Ausbildung naturwissenschaftliche Kurse an. Kommen Ihre Studenten wegen oder trotz dieser Kurse zu Ihnen?

Köster: Wären diese Kurse nicht verpflichtend – ich hätte nur wenige Studierende im Seminar. Andererseits sehen die Studierenden natürlich auch, dass sich Kinder sehr stark für naturwissenschaftliche Phänomene und Experimente interessieren. Zu Beginn fühlen sie sich deshalb unsicher und möchten wissen: Wie gehe ich mit Fragen der Kinder um? Was kann ich tun, wenn ich keine fachlichen Kompetenzen mitbringe?

TR: Wie nehmen Sie Ihren Studierenden die Angst vor Naturwissenschaften?

Köster: Ich gebe ihnen zu Beginn die Möglichkeit, je nach Interesse selbst zu forschen und zu experimentieren und danach vertieft auf selbst ausgewählte Inhalte einzugehen. Beispielsweise wurde von einer Gruppe das Thema Eisen bearbeitet. Die Studierenden haben sich gefragt: Wir haben doch Eisen im Blut, wieso rosten wir nicht? Oder rosten wir doch von innen? Die Gruppe hat ein hervorragendes Projekt entwickelt und danach wirklich das Gefühl gehabt: Eigentlich ist es ganz egal, um welches Thema es sich handelt, wir können es selbst erforschen.

TR: Haben Ihre Absolventen dadurch auch bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt?

Köster: Das kann man wohl sagen. Die meisten Erzieherinnen und Erzieher, die zurzeit tätig sind, haben keine naturwissenschaftliche oder technische Ausbildung. Da aber in den Bildungsplänen diese Bereiche zunehmend auch für den Kindergarten eingefordert werden, haben unsere Absolventen diesen Bereich sozusagen schon mal für sich.

TR: Wie hat sich aus Ihrer Sicht der Stellenwert technischer Bildung in den letzten Jahren verändert?

Köster: Eigentlich gibt es für das Gebiet "Kinder und Technik" schon relativ viel Aufmerksamkeit – zumindest im Grundschulbereich. Das fing in den siebziger Jahren an. Damals hat man allerdings versucht, die fachlichen Inhalte der Sekundarstufen an das Grundschulniveau anzupassen. Viele Lehrerinnen und Lehrer fühlten sich durch die neuen Fachinhalte und durch die Fülle an Stoff überfordert. Sie kritisierten auch zu Recht, dass die Interessen und Bedürfnisse der Kinder nicht genügend berücksichtigt würden. Die Folge war, dass die Naturwissenschaften und die Technik in den achtziger und neunziger Jahren im Grundschulunterricht nur noch eine sehr geringe Rolle spielten.

TR: Und das ist heute noch so?

Köster: Ende der neunziger Jahre hat man gesehen: Da muss man wieder etwas unternehmen. Die Politik hat die Themen dann in die Bildungs- und Lehrpläne aufgenommen. Außerdem gibt es relativ viele Projekte durch Initiativen aus der Wirtschaft mit Blick auf den Arbeitsmarkt. Allerdings fehlt diesen Projekten oft ein wissenschaftlicher Unterbau. Nur selten fließt ein, was man über das Lernen, die Motivation und die Interessen von Kindern weiß. Meist werden Kindern vielfältige Experimente präsentiert, die aber nur selten an die Erfahrungen der Kinder anknüpfen oder im Kontext von Alltagserfahrungen stehen.

TR: Und wie sieht es in Kindergärten, Tagesstätten und Vorschulen aus?

Köster: Die Elementarstufe wird noch nicht sehr lange als Bereich gesehen, in dem auch Naturkunde und Technik eine Rolle spielen sollten. Entsprechend groß ist die Unsicherheit, wie man mit dem Thema umgehen soll. In Bayern beispielsweise finden Sie sehr viele Inhalte, die zum Teil explizit aus dem naturwissenschaftlichen Bereich der Sekundarstufen herausgenommen worden sind. Hier sehe ich die Gefahr, dass die Pädagogen – wie in den siebziger Jahren – wieder überfordert werden. In den Bildungsplänen für Nordrhein-Westfalen, Berlin und Niedersachsen werden dagegen kaum Inhalte vorgegeben. Hier versucht man eher, die Erzieherinnen und Erzieher für Selbstbildungsprozesse der Kinder zu sensibilisieren. Es gibt eben noch keine fest umrissene naturwissenschaftliche oder technische Elementardidaktik. Daran forschen wir noch.

TR: Wie macht sich das Fehlen einer solchen Elementardidaktik in der Praxis bemerkbar?

Köster: Im Kindergarten haben Erzieherinnen und Erzieher oft keine richtigen Vorstellungen davon, was sie machen sollen. Vielfach entscheiden sie sich dafür, Unterricht zu geben, obwohl sie gar nicht für die Unterrichtsgestaltung ausgebildet wurden. Dann überlegen die Erzieher, wie es bei ihnen in der Schule war, und teilen Arbeitsblätter aus. Die Kinder sitzen also an Tischen und füllen Arbeitsblätter aus. Wenn sie noch nicht schreiben können, müssen sie eben anmalen. Das ist natürlich nicht Sinn der Sache.

TR: Wie ginge es besser?

Köster: Ich gebe Ihnen nur ein Beispiel: Da hat eine Erzieherin einen schönen großen Raum gemeinsam mit Kindern umgestaltet, in dem Projekte durchgeführt werden können. Gemeinsam mit den Kindern wird überlegt: Was wollen wir untersuchen – und wie? Welches Material brauchen wir? Wenn Kinder wissen, sie können ihren eigenen Fragen nachgehen, dann entwickeln sie natürlich auch Eigeninitiative.

TR: Wenn das so einfach ist – warum machen das dann nur so wenige Erzieher?

Köster: Weil es noch immer veraltete Vorstellungen für die Gestaltung von Unterricht gibt, die dazu führen, dass die Pädagogen die Abläufe meist selbst gestalten und die Kinder sehr selten mit- bestimmen können. Wenn Kinder frei experimentieren können, lassen sie zunächst einmal Regeln außer Acht, die in der Schule eine große Rolle spielen. Etwa dass man Sachen, die man anfängt, zu Ende bringen muss. Wenn etwas nicht klappt, legen sie es beiseite. Dann wird was Neues probiert.

TR: Was ist denn dabei der Lernerfolg?

Köster: Eben, das fragen sich die Erzieher dann auch. Mit dieser Chaosphase können sie ganz schwer umgehen. Und es ist laut dabei. Aber wenn man richtig hinhorcht, merkt man, dass die Kinder sich immerzu über die laufenden Experimente unterhalten. Und wenn man genau hinschaut, sieht man auch, dass sie anfangen, sich intensiver mit bestimmten Phänomenen zu beschäftigen. Dabei entwickeln sie von sich aus schon so etwas wie wissenschaftliche Methoden – also etwa, dass man bei Experimenten immer nur eine Variable verändern darf.

TR: Das mag ja im Kindergarten noch gehen. Aber was macht ein Grundschullehrer, der einem dichten Lehrplan folgen muss?

Köster: Meistens bietet der Lehrplan genug Freiraum. Man muss ihn nur ausnutzen. Alles, was im Lehrplan steht, kann man auch an exemplarischen Beispielen lernen. Zum Beispiel in der Astronomie: Die hat so viele Facetten – Material, Mechanik, Optik. Die Kinder lernen, wenn es kontextgebunden ist, wesentlich mehr.

TR: Wie reagieren Eltern auf Ihren Ansatz des forschenden und entdeckenden Lernens?

Köster: Sie sind begeistert. Aber es fordert sie natürlich auch. Wenn die Kinder anfangen zu experimentieren, manchmal über Mo- nate hinweg, geht beispielsweise viel Zucker oder Seife dabei drauf. Da müssen Werkzeuge angeschafft werden, und die Kinder wollen zu Weihnachten plötzlich Experimentierkästen oder Bücher haben.

TR: Welche Reaktionen gab es bisher von Ihren Fachkollegen?

Köster: Es gibt sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was man in diesen Bereichen den Kindern schon anbieten sollte. Einerseits besteht die Angst, dass Kinder, die so früh viele Experimente kennenlernen, ja später bereits alles kennen. Womit soll man sie im Unterricht noch begeistern? Im Grunde müsste man dann sagen: Gut, wir können ja das Niveau im Unterricht anheben.

Im Bereich Elementarpädagogik gibt es außerdem die Ansicht, dass man Kinder spielen lassen und nicht bereits so früh alles verschulen soll. Dem liegt die Befürchtung zugrunde, die Kinder sollten nun auch schon im Kindergarten unterrichtet werden, was ja nicht der Fall ist. Die Elementarpädagogik ist eben noch auf dem Weg. Erst dann, wenn man wirklich sinnvolle Ideen entwickelt hat, kann man das auch an die Öffentlichkeit vermitteln. (bsc)