Die Stadt ist unsere Fabrik

Man könnte den derzeitigen Aufruhr an den Universitäten für ein lustiges Ritual halten. Aber er kommt zusammen mit einem Rumoren in den Städten. Beide stehen für die neue Auseinandersetzung um die urbane Wissensgesellschaft von morgen.

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Von
  • Niels Boeing

Man könnte den derzeitigen Aufruhr an den Universitäten für ein lustiges Ritual halten. Aber er kommt zusammen mit einem Rumoren in den Städten. Beide stehen für die neue Auseinandersetzung um die urbane Wissensgesellschaft von morgen.

Es liegt etwas in der Luft: Gestern protestierten Zehntausende Studenten in rund 50 Städten gegen den Zustand der akademischen Landschaft in dieser Republik. Freie Bildung für alle (ohne Studiengebühren), weg mit dem Bachelor-System und Demokratisierung der Universitäten - so könnte man die Forderungen des akademischen Nachwuchses zusammenfassen.

Nun sind Studenten-"Streiks" seit langem ein lustiges Ritual an deutschen Universitäten. Ich hatte 1993 das Vergnügen, selbst an einem teilzunehmen. Also alles wie gehabt?

Ich meine: nein. Denn der Schlachtruf "Bildung für alle" kommt dieses Mal zusammen mit Auseindersetzungen über eine zukunftsfähige Stadtentwicklung, mit einer Absage an das Top-Down-Modell der etablierten Politik, die seit Jahren Bildung und städtische Infrastrukturen (Energie, Wasser, Wohnraum) zur schlichten Ware degradiert, die in privater Hand besser aufgehoben sein soll.

Mit der Krise des Neoliberalismus, die sich in der Finanzkrise offenbart hat, steht jetzt auch die Form der Wissensgesellschaft, die er propagiert hat, zur Diskussion.

1973 veröffentlichte der US-Soziologe Daniel Bell das Buch "Die nachindustrielle Gesellschaft", in der er die Deindustrialisierung der Städte und den Aufstieg der "Wissensarbeiter", die später die Innenstädte wiederbeleben würden, prognostizierte. Und genau die sind es, die nun aufbegehren: die angehenden (Studenten) und die praktizierenden (das Heer der "Kreativen", Kulturarbeiter und freiberuflichen, im weitesten Sinne IT-gestützten Dienstleister).

Welche Dynamik dieser Unmut zu entfalten vermag, zeigt, man glaubt es kaum – Tel Aviv. Dort gründete sich Anfang 2008 aus städtischen Initiativen und Umweltorganisationen die sozial-ökologische Bewegung Ir le-kulanu ("Eine Stadt für alle"). Ihre vier politischen Forderungen lesen sich wie ein Entwurf der nachhaltigen urbanen Gesellschaft von morgen: mehr Demokratie, Bildung für alle, bezahlbarer Wohnraum für alle, öffentlicher Nahverkehr für alle. Aus dem Stand schaffte der Kandidat von Ir le-kulanu bei der Bürgermeisterwahl vor einem Jahr 35 Prozent. Bei der Kommunalwahl erhielt die Ir le-kulanu-Liste 20 Prozent der Stimmen – obwohl die Bewegung nach wie vor keine Partei ist.

Die Stadt, in der sich hierzulande gerade ähnlicher Unmut entwickelt, ist Hamburg. Gründe gibt es genug: Grünflächen sollen zugebaut werden; ein halber Stadtteil soll für die Fernwärme-Trasse des umstrittenen Vattenfall-Kohlekraftwerks Moorburg aufgerissen und verdichtet werden; ganze Innenstadtviertel für den globalen Standortwettbewerb der Städte aufgewertet und weiteren Investoren schmackhaft gemacht werden. Und auch in Hamburg rebellieren die Studenten.

"Die Stadt ist unsere Fabrik", lautet ein Slogan des Hamburger Unmuts. Das mag zunächst seltsam klingen – aber es bringt die von Daniel Bell prognostizierte Entwicklung auf den Punkt. In der (westlichen) Stadt werden heute im Wesentlichen Wissen, Kultur und Dienstleistungen aller Art produziert, die aber öffentliche Freiräume und bezahlbare Wohnungen (quasi Werkstätten des Geistes) voraussetzen. Bell hatte allerdings nicht vorausgesehen, dass diese Produktion zunehmend unter prekären Bedingungen erfolgt.

Die Städte von heute sind nicht nachhaltig – sozial nicht, ökologisch nicht, wirtschaftlich nicht. Sie müssen es in den nächsten Jahrzehnten aber werden, wenn irgendwann zwei Drittel der Menschheit in Städten lebt. Die zonierte, privatisierte, von oben durchregierte und "grün" lackierte Stadt ist die Lösung im neoliberalen Geiste.

Und genau dagegen gehen die "Wissensarbeiter" – die angehenden und die praktizierenden – jetzt an. Ob sie eine bessere, funktionierende Alternative entwickeln können, wird man sehen. Dass sie es schaffen, ist aber unbedingt zu hoffen. (nbo)