Fahrradparadies Tokio

Sicher, schnell und sauber - das Fahrradfahren in der größte Megalopolis der Welt ist ein erstaunlich stressfreies Vergnügen.

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Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Martin Kölling

Klimaschutztechnisch gesehen halten sich die Japaner für weltweit extrem vorzeigbar. Schließlich nutzen sie wie wild die Bahnen im Nahverkehr und scheuen den Autokauf. So denken Tokioter beim Thema "Verkehr" nicht ohne Grund zuerst an proppenvolle, aber superpünktliche Nahverkehrzüge, die im Drei-Minuten-Takt täglich Millionen von Menschen morgens in die Stadt hinein und abends wieder hinaus schaufeln. Zur Rush-hour nicht schön, aber praktisch.

Gleichzeitig besitzen die meisten Tokioter kein Auto, weil man es erstens nicht braucht und es zweitens mit allen Nebenkosten (wie beispielsweise den mehreren Hundert Euro pro Monat für den Parkplatz oder den Versicherungen) schlicht zu teuer ist. Aber kaum jemand kommt auf die noch sauberere Idee, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren. Nach mehreren Monaten im Selbstversuch kann ich das nicht verstehen. Tokio ist eine tolle Radfahrerstadt – sicher, sauber, schnell.

Nun, ich muss gestehen, auch bei mir ist es Liebe auf den zweiten Blick. Auf den ersten gab ich jahrelang meinen Freunden recht, die mir unisono ein "Viel zu gefährlich!" entgegenriefen, als ich erstmals darüber nachdachte, das Fahrrad zu mehr als der Fahrt zum U-Bahnhof zu nutzen. Schließlich gibt es kaum spezielle Radwege. Stattdessen schlängeln sich Zweiräder entweder auf dem Fußweg zwischen schleichenden Zweibeinern hindurch – oder rollen eben auf der Straße mit Taxen, Lastern und Motorrädern mit.

Doch seit ich dieses Jahr in die Stadt Tokio gezogen bin und nur noch fünf statt 30 Kilometer vom "Foreign Correspondent's Club" entfernt wohne, in dem ich mein Stadtbüro aufgeschlagen habe, radle ich fast täglich durch die Stadt. Mein Fazit: Die Warnungen sind wohlmeinend, aber unzutreffend. Ich habe mich in den vermeintlichen Fahrradnationen Deutschland und China nie so sicher gefühlt wie in Tokio, obwohl – oder besser: gerade weil – ich fast immer auf der Straße im Verkehr mitrolle. Anders als in meinen Hamburger Tagen, als ich fast jeden Tag Beinahe-Zusammenstöße mit rechts abbiegenden Autos erleben durfte, weil mich deren Fahrer bei all den Bäumen und parkenden Autos zwischen Straße und Radweg schlicht nicht haben heran eilen sehen, komme ich hier so gut wie nie in die Bredouille. Denn die Autofahrer müssen mich ja schließlich erst einmal überholen, um vor mir abbiegen zu können.

Sie glauben mir nicht? Ich habe mich auf der WM der Fahrradkuriere mit professionellen Pedaletretern aus aller Welt unterhalten – und die haben mir bestätigt: So gut und sicher wie in Tokio fährt es sich sonst nirgendwo. Und Schlaglöcher gibt's auch kaum.

Allerdings ist dies kein bedingungsloses Plädoyer für die Abschaffung der Radwege, sondern ein Appell für ihre Verlegung auf die Straße. Denn das Gefühl der Sicherheit im Straßenradeln verdanken wir einer Reihe von Tokioter Eigenarten.

Die erste und wichtigste: Den linken Fahrstreifen – in Deutschland wäre es der rechte, denn hier in Japan herrscht Linksverkehr wie in England – haben die Japaner aus Gewohnheit per ungeschriebenen Gesetz zum Standstreifen degradiert. Auf ihm halten Taxen oder Lieferlastwagen, während der fließende Verkehr sich rücksichtsvoll auf die verbleibenden ein, zwei oder drei Fahrbahnen zwängt. Dadurch habe ich fast immer eine riesige Spur für mich allein, ohne ständig Überraschungen von Fußgängern befürchten zu müssen.

Zweitens fahren die Autofahrer recht zivil. Das liegt nicht nur am relativ niedrigen Durchschnittstempo in Japans Städten, das in der Rushhour nach einer Auswertung von Japans Verkehrsleitsystem 20 Kilometer pro Stunde beträgt. Es gibt einfach weniger Privatfahrer und damit weniger aggressive Gaspedalisten. Ergebnis ist eine leicht geringere Verkehrsdichte als in Berlin oder München und eine weit geringere als in Paris. Zudem hat die Verkehrserziehung offenbar den vielen professionellen Fahrern von Taxen und Lastern den Rowdy-Zahn gezogen. Früher, erzählte mir ein Bekannter kürzlich, machten sich Taxen gerne den Spaß, dicht an die Radfahrer heranzurollen und zu hupen. Heute halten sie zumeist genügend Abstand und Stille.

Drittens sind die Autofahrer schlimmeres gewohnt als einen Radfahrer wie mich, der in richtiger Richtung auf der Straße fährt. Omis, Väter, Mütter, Kind – sie alle fahren gerne mal auf der Straße am Kantstein auf der "falschen" Seite dem fließenden Verkehr entgegen.

Meine normale Tagesleistung liegt inzwischen bei 10 bis 20 Kilometern. Meine weiteste Fahrt am Stück führte mich bisher 14 Kilometer weit quer durch das Zentrum – von meinem Wohnort in Toyosu (zentrales Ost-Tokio) durch das Zentrum Tokios nach Shinjuku (zentrales West-Tokio). 45 Minuten brauchte ich zu meiner Überraschung in der sommerlichen Mittagshitze für die Strecke nur, weil ich auf der Hinfahrt meistens in der grünen Welle für Autos mitschwimmen konnte. Von Haustür bis zum Sitz der besuchten Firma benötigte ich damit in etwa genau so lange wie bei perfekter U-Bahnverbindung. Die Rückfahrt dauerte 15 Minuten länger, obwohl es tendenziell bergab ging. Denn aus irgendeinem Grund musste ich öfter an Ampeln halten.

Ich freue mich über das Radeln: Ich tue nicht nur meiner Fitness, sondern auch der Umwelt etwas gutes. Mit jedem mehr an Atemzug lasse ich die Stadtluft ein bisschen sauberer zurück als sie es vorher war. Doch bei aller gefühlten Sicherheit, verzichte ich auf eines nicht: den Fahrradhelm. Denn es bleibt ein Restrisiko. Im November demonstrierte das der Vorsitzende der oppositionellen Liberaldemokratischen Partei (LDP), Sadakazu Tanigaki, als er einen schweren Fahrradunfall hatte. Doch halt, in gewisser Weise bestätigte der Scharping der LDP damit auch wieder meine Erfahrung von der Radlersicherheit auf Autostraßen: Er war auf einem Deichweg mit einem anderen Radler zusammengerauscht. (bsc)