Die neue Werkzeugkiste der Medizin

Forscher können Körperzellen immer besser zu Stammzellen umprogrammieren. Bis zu funktionierenden Heilmethoden wird es noch lange dauern, doch kurzfristig lassen sich die ethisch unproblematischen Wandlungskünstler jetzt schon nutzen.

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Von
  • Lauren Gravitz

Forscher können Körperzellen immer besser zu Stammzellen umprogrammieren. Bis zu funktionierenden Heilmethoden wird es noch lange dauern, doch kurzfristig lassen sich die ethisch unproblematischen Wandlungskünstler jetzt schon nutzen.

Die Gründer von iZumi Bio hatten einen ambitionierten Namen gewählt: iZumi bedeutet auf Japanisch "Jungbrunnen" – und das US-amerikanische Biotechnologie-Unternehmen hat sich auf Zellen spezialisiert, die den Ruf haben, wie ein solcher Jungbrunnen zu wirken. Die Objekte der Begierde sind die sogenannten "induzierten pluripotenten Stammzellen" (iPS), die durch die genetische Rückprogrammierung von Körperzellen hergestellt werden. Wissenschaftler setzen große Hoffnung in sie, denn die Wandlungskünstler können sich ähnlich wie die embryonalen Stammzellen in viele verschiedene Gewebe des Körpers entwickeln, und könnten aber gleichzeitig deren ethisch problematische Gewinnung obsolet machen.

Die größte Aufmerksamkeit gilt bisher der regenerativen Kraft von Stammzellen: Da sie so viele Gewebearten – und auch sich selbst – erneuern können, so die Hoffnung der Wissenschaftler, könnten sie eines Tages dazu verwendet werden, Ersatzorgane zu züchten, Rückenmarksverletzungen zu heilen oder beschädigtes Gehirngewebe zu reparieren.

Darüber hinaus bieten iPS aber eine zweite viel versprechende Möglichkeit: Wenn sie aus Zellspenden von Patienten gewonnen werden und aus den iPS anschließend verschiedene Gewebetypen hergestellt werden – dann tragen diese spezialisierten Zellen die gleichen genetischen Fehler wie die ursprünglichen Körperzellen und können im Labor als Krankheitsmodelle dienen.

So könnte zum Beispiel die Hautzelle eines Parkinson-Patienten über die Zwischenstufe iPS in eine Nervenzelle verwandelt werden, die dann ebenfalls die molekularen Veränderungen der neurodegenerativen Erkrankung zeigt. Mit Hilfe der iPS könnten die Wissenschaftler in den Zellen die ersten Veränderungen aufdecken, die sich noch nicht in Form von Symptomen zeigen, und den Krankheitsverlauf mit nie da gewesener Genauigkeit beobachten. Das ist ein Unterschied, als ob man ein verunglücktes Flugzeug anhand von Wrackfotos zusammenzusetzen versucht – oder aber ein Video des Absturzes zur Verfügung hat. Denn bisher können Forscher die Gehirne von Parkinson-Patienten etwa erst nach ihrem Tod untersuchen – und Tierversuche bieten nur grobe Näherungen für die menschliche Krankheitsversion.

"Die letzten zwei Jahre waren schon revolutionär", sagt iZumi-Bio-Forscher John Dimos. "Davor existierten diese Zellen noch nicht. Es ist eine brandneue Technik und sie eröffnet uns ganz neue Möglichkeiten." Dimos' Unternehmen will eine Gewebebank mit umprogrammierten Körperzellen aufbauen. Zunächst werden Zellen von Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen gesammelt, zum Beispiel solchen mit der Parkinsonschen Krankheit, mit amyotropher Lateralsklerose oder mit spinaler Muskeldystrophie. Daraus wollen die Forscher Muskel- und Nervenzellen herstellen, also diejenigen Gewebearten, die bei diesen Krankheiten geschädigt werden – um anschließend zu beobachten, wie sich die Zellen durch die Krankheiten verändern.

Mit diesem Wissen will das Unternehmen später auch Medikamente gegen diese Krankheiten entwickeln und – in Kooperation mit anderen Pharmazie-Unternehmen – auch gegen weitere Erkrankungen Heilmittel finden. "Wir glauben, dass wir bereits in 2012 eigene Therapeutika in der Entwicklung haben werden", gibt sich Geschäftsführer John Walker zuversichtlich.

Dann wird das Unternehmen gerade einmal fünf Jahre alt sein. Gegründet wurde es 2007 von der Ärztin Beth Seidenberg, die zu der Zeit Partnerin beim Wagniskapitalfinanzierer "Kleiner Perkins Caufield and Byers" war. Zusammen mit Highland Capital Partners, einem weiteren Wagniskapitalgeber, gründete sie iZumi Bio mit einem Startkapital von 20 Millionen US-Dollar. Seidenberg, die 20 Jahre lang in der pharmazeutischen Forschung gearbeitet hat, war sofort vom Potential der iPS überzeugt: "Mich hat die Vorstellung fasziniert, vom kranken Menschen sozusagen rückwärts zu arbeiten, also genau entgegengesetzt zu der Strategie, mit der wir bislang neue Therapien entwickeln."

John Dimos hat bereits gezeigt, dass die neue Strategie funktioniert: Er programmierte die Hautzellen einer 82-jährigen Frau mit amyotropher Lateralsklerose – einer Erkrankung, bei der diejenigen Nervenzellen unwiederbringlich geschädigt werden, die für die Muskelbewegungen verantwortlich sind – erfolgreich in iPS um und regte diese anschließend mit speziellen Substanzen dazu an, sich in motorische Nervenzellen weiter zu entwickeln. Die erzeugten Neuronen waren genetisch identisch mit den fehlerhaft funktionierenden Nervenzellen der Patientin. "Das ist gigantisch. Es bedeutet, dass wir Krankheiten auch in der Petri-Schale und nicht nur im Körper beobachten können", sagt Douglas Melton, Co-Direktor des "Harvard Stem Cell Institutes" in im US-amerikanischen Cambridge. Zum Beispiel lässt sich überprüfen, warum ein Patient auf ein bestimmtes Medikament nicht anspricht und testen, welche anderen Mittel bei ihm wirksam wären.

Melton hat gemeinsam mit zwei weiteren namhaften Hardvard-Forschern, George Daley und Lee Rubin, ebenfalls ein auf iPS spezialisiertes Biotechnologie-Unternehmen gegründet – Pierian. Im Sommer fusionierten beide Unternehmen zu "iPierian" und sicherten sich zusätzliches Risikokapital in Höhe von 11,5 Millionen US-Dollar. Die Harvard-Forscher haben bereits mehr als 20 verschiedene iPS-Krankheitsmodelle geschaffen, unter anderem für die Parkinsonsche Krankheit und für Typ-1-Diabetes, die angeborene Form der Zuckerkrankheit.

Wann es also tatsächlich die ersten Medikamente auf der Basis der umprogrammierten Stammzellen geben wird, ist unklar. Wenn die Wissenschaftler eines aus der Forschung mit embryonalen Stammzellen gelernt haben, dann dass ein großen Potential keine Garantie für Erfolg ist. Trotz der großen Hoffnungen, die in die ethisch problematischen Zellen gesetzt wurden, gibt es derzeit kaum Therapien mit ihnen. Der frühere US-Präsident George Bush hatte die öffentlichen Fördermittel für Forschung an embryonalen Stammzellen auf bereits existierende Zelllinien begrenzt. Diese waren allerdings, wie sich später herausstellte, oft unbrauchbar, weil sie auf Mauszellen gezüchtet wurden und von Tierviren befallen waren. Obwohl Barack Obama diese Regelung kurz nach seinem Amtsantritt wieder aufhob, beklagten Stammzell-Forscher, dass sie in ihrer Arbeit um Jahre zurückgeworfen worden seien. Auch in Deutschland dürfen nur bestimmte embryonale Stammzellen zu Forschungszwecken verwendet werden, nämlich solche, die vor dem 1. Mai 2007 gewonnen wurden – darunter sind aber bereits Zelllinien, die ohne Mauszellen gezüchtet wurden.

Ob die ethisch unproblematischen iPS tatsächlich gleichwertig zu den embryonalen Stammzellen sind, und damit der lang ersehnte Ersatz für sie sein können, ist ebenfalls noch nicht restlos geklärt. Zwar gibt es viele Hinweise darauf, allerdings ist die Qualität der bisherigen iPS häufig zu inkonsistent: Selbst Zellen aus derselben "Herstellungscharge" können unterschiedlich sein. Darüber hinaus gibt es keinen Königsweg zu ihrer Herstellung sondern viele verschiedene Methoden – und damit wieder keine Zellen mit einheitlichen Eigenschaften. Und schließlich lassen sich aus ihnen bisher nur beispielsweise Nerven-, Muskel- und Blutzellen herstellen – aber zum Beispiel noch keine Bauchspeicheldrüsen-Zellen.

Trotzdem sehen sich die Forscher von iPierian und anderen Unternehmen auf dem richtigen Weg. "Das kurzfristig erreichbare Ziel mit iPS sind definitiv Krankheitsmodelle und das Testen von Medikamenten", sagt George Daley von der Harvard University. "Langfristig hoffe ich nach wie vor, dass wir auch Zellen herstellen werden, die therapeutisch einsetzbar sind." (bsc)