Twitter dich reich

Immer mehr Menschen veröffentlichen im Internet kurze private Botschaften, die von jedem gelesen werden können. Jetzt entdecken Unternehmen Twitter als Instrument für Werbung und Kundenkommunikation.

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Von
  • Steffan Heuer

Dieser Text ist der Print-Ausgabe 12/2009 von Technologie Review entnommen. Das Heft kann, genauso wie die aktuelle Ausgabe, hier online portokostenfrei bestellt werden.

Immer mehr Menschen veröffentlichen im Internet kurze private Botschaften, die von jedem gelesen werden können. Jetzt entdecken Unternehmen Twitter als Instrument für Werbung und Kundenkommunikation.

Das Pseudonym Perez Hilton ist bekannt und berüchtigt. Keiner heizt Gerüchte über Prominente so an wie er. Das bewies der US-amerikanische Blogger anlässlich des Todes von Michael Jackson. Über die Kurznachrichten-Plattform Twitter hatte Hollywoods schrillste Klatschbase im Internet verlauten lassen, dass der "King of Pop" den Schlaganfall nur vorgetäuscht hätte. Das war sogar für die tolerante Internet-Gemeinde zu viel. Unter dem Schlagwort #unfollowperez – in der Szene aufgrund des vorangestellten Gatterzeichens als "Hashtag" bezeichnet – rief sie die Twitter-Gemeinde dazu auf, Perez' Gerüchteschnipsel nicht mehr mitzulesen. Umso mehr müssen sich die rund 1,4 Millionen verbliebenen Anhänger von Perez Hilton die Augen gerieben haben, als dieser folgenden "Tweet" veröffentlichte: "Gesponsert: Ich kombiniere gern kräftige Farben mit klassischem Stil, um das Leben etwas aufzumischen. Tweetet Modetipps an #gapstyletips, damit ihr auf CocoPerez.com erscheint!" Das taten dann auch mehrere Hundert seiner Leser und machten so Werbung für die US-amerikanische Modemarke The Gap, die den rührigen Blogger für die Twitter-Reklame bezahlt. Organisiert hatte die Aktion die US-amerikanische Werbeagentur Blogads, die sich auf Annoncen in neuen Medien spezialisiert hat, auch wenn bei Mikroblogging-Diensten wie Twitter dafür gerade einmal 140 Anschläge zur Verfügung stehen.

Perez Hiltons Schleichwerbung ist weder Einzelfall noch Ausrutscher, sondern Produkt eines neuen Geschäftsfeldes. Denn nicht nur Webagenturen, sondern auch Unternehmen wie der Computerkonzern Dell oder der Kabelnetzbetreiber Comcast zerbrechen sich den Kopf, wie man mit Twitter nicht nur Aufmerksamkeit erregen, sondern auch Geld verdienen kann. Sie nutzen das Häppchen-Medium nicht nur für Marketing, sondern auch zur gezielten Interaktion mit Kunden. Auch wenn die Rendite dafür bislang nur schwer zu berechnen ist, sind sie überzeugt, dass Twitter ihnen bereits zusätzlichen Umsatz beschert.

Blogads und Izea sind zwei Firmen, die sich dabei am weitesten vorgewagt haben und seit Kurzem sogenannte "Sponsored Tweets" von ausgewählten Individuen an meistbietende Firmen verkaufen. Blogads setzt dabei gezielt auf bekannte Blogger, die auf der Twitter-Plattform aktiv kommunizieren. Das Honorar für die werbenden Kurznachrichten handelt das Unternehmen individuell aus. Die Gewinnrechnung für Sponsored Tweets sei einfach, behauptet Blogads-Chef Henry Copeland. Ein richtig formulierter Werbetext – natürlich nicht länger als 140 Anschläge – kann bei einem Promi-Blogger wie Hilton bis zu 20000 Klicks verursachen. Damit liegt er in puncto Werbewirkung weit über der von herkömmlicher Bannerwerbung oder gesponserten Links. Auch das in Florida ansässige Unternehmen Izea hat ein Werbenetz aufgebaut, ähnlich dem von Blogad, um Twitter-Nutzer mit Firmen zusammenzubringen. Dafür hat es eigens ein Programm namens ClickWatch entwickelt, das die Reichweite der Werbung anhand der Klickraten analysiert. Veröffentlicht einer der bei Izea registrierten Werbetweet-Schreiber einen gesponserten Tweet, prüft das System, wie oft Leser diesen aufrufen. Ist die gemessene Anzahl der Klicks zu gering, beauftragt das System weitere Tweets oder veröffentlicht diese gleich automatisch unter dem Twitter-Namen des Schreibers.

Mit dieser Methode konnte sich Geschäftsführer Ted Murphy bereits nach einem Monat im Geschäft über handfeste Verträge freuen, die von 20 bis 40000 Dollar reichten. "Wir haben Hunderte von Firmen unter unseren Kunden, die Tweet-Werbung buchen wollen. Denen können wir Zugang zu zwölf Millionen Twitter-Nutzern verschaffen", erklärt Murphy. Zu Izeas ersten Auftraggebern gehörten die US-amerikanische Kaufhauskette Kmart und die Bekleidungsmarke Armani Express. "Beides sind völlig unterschiedliche Marken mit unterschiedlichen Ansprüchen – die eine wollte ihre Sonderangebote bewerben und dabei Otto Normalverbraucher einsetzen, die andere eine Jeans-Aktion über Twitter-Promis starten", berichtet Murphy. Die Rolle von Izea sieht er dabei eher als eine Art Partnervermittlung und weist jeden Verdacht der Schleichwerbung von sich. Erstens sei jeder Tweet mit dem Schlagwort "Gesponsert" deutlich gekennzeichnet, zweitens könne jeder Twitter-Nutzer festlegen, welche Kampagnen er akzeptiert und wie oft und zu welchen Uhrzeiten eine Werbebotschaft von ihm selbst oder von Izeas Software zwischen seinen eigenen Kurznachrichten veröffentlicht wird. Anders als bei E-Mails besteht keine Gefahr, von Twitter-Spam überrollt zu werden, da die Nutzer selber festlegen, wessen Tweets sie kontinuierlich lesen – und dies mit einem Mausklick beenden können. Für die aktiven Twitterer scheint sich der Ansatz zu lohnen. "Wer genügend Anhänger hat, kann schnell ein paar Tausend Dollar verdienen", behauptet Murphy. Der Twitterer vereinbart im ClickWatch-System seinen Preis pro Tweet selbst mit dem Werbekunden. Izea kassiert nochmals den gleichen Preis vom Auftraggeber als Vermittlungsgebühr.

Trotz solcher Erfolgsmeldungen gelten die Sponsored Tweets für viele Experten als die falsche Antwort auf die Frage, die alle Twitter-Beobachter umtreibt, seit der Mikroblogging-Dienst vor drei Jahren online ging: Wie können sich Unternehmen den chaotischen, schnelllebigen Strom aus Trivialem und Tiefsinnigem zunutze machen? Auch wenn eine Harvard-Studie zum Schluss kam, dass 90 Prozent aller Tweets von nur zehn Prozent aller Nutzer stammen, erlebt der Dienst weiterhin massiven Zulauf. Laut der Marktforschungsfirma comScore hatte Twitter im Juni weltweit rund 44,5 Millionen aktive Nutzer, rund elf Millionen davon in Europa und sieben Millionen in Asien. Die wirkliche Zahl liegt allerdings wahrscheinlich zwei- bis dreimal so hoch, da comScore lediglich Besucher auf Twitters eigener Webseite misst, aber nicht all jene, die ihre Tweets über andere Programme oder per Handy einspeisen. Das Interesse an dem unausgereiften Kommunikationskanal ist damit so enorm, dass viele Unternehmen glauben, es sich nicht leisten zu können, ihn zu ignorieren. Allerdings haben sie bisher keine konkreten Hinweise, wie viel sie an Personal, Geld und Reputation investieren sollten. Als einer der lautstärksten Kritiker gesponserter Tweets gilt Richard Laermer, ein angesehener PR-Experte aus New York. Er zweifelt daran, dass jedes Unternehmen über Twitter mehr Produkte verkaufen könne. Einen größeren Nutzen sieht er in der Möglichkeit, über den Kurznachrichtendienst Kunden zuzuhören und herauszufinden, was sie interessiert oder in Rage bringt – und darauf zu antworten. Laermer ist überzeugt: "Mit keinem anderen Medium kann ich schneller herausfinden, was los ist."

Eine solche Twitter-Initiative für den Kunden kann klein und preiswert anfangen, erfordert aber bei entsprechendem Erfolg schnell mehr Personal, wie die Beispiele Dell und Comcast zeigen. Dells Twitter-Expertin Stefanie Nelson konnte seit Juni 2007 drei Millionen Dollar Umsatz dank @DellOutlet vermelden. Die Twitterei von Sonderangeboten fing klein an und wächst inzwischen exponenziell – von rund 500000 Anhängern im Mai auf rund 1,5 Million im Oktober. Der Computerhersteller, der sich sonst für extrem schlanke Fertigung und Vertrieb rühmt, unterhält für solche Kundenkommunikation inzwischen auch an die 200 individuelle Twitter-Konten. Diese wollen alle gepflegt sein und sollen möglichst eine persönliche Stimme besitzen – ohne dabei die im Unternehmen existierenden Richt- linien für die Internetbenutzung oder externe Kommunikation zu verletzen. Für Dell lohnt sich der Twitter-Aufwand nicht nur wegen des Umsatzes: "Es gibt auch eine langfristige Rendite, denn die Beziehung zu unseren Kunden wird gestärkt", erklärt Nelson.

Auch das Unternehmen Comcast twittert. Der Kabelnetz-betreiber, der mit 25 Millionen Abonnenten in weiten Teilen der USA ein Quasi-Monopol besitzt, löst bei genervten Kunden intensive Hassgefühle aus. "Comcast, du bist verdammt noch mal das Allerletzte! Warum ist der Service immer so langsam?", verkündete beispielsweise der Nutzer Miz Mari über Twitter. Für die Auswertung solcher Unmutsbekundungen leistet sich Comcast eine inzwischen zwölfköpfige Twitter-Mannschaft, die unter dem Twitter-Account @ComcastCares sowohl Kundenlob als auch Schelte verfolgt und Problemen nachgeht. Das habe positive Auswirkungen auf die Verweildauer der "Follower", glaubt Comcasts Twitter-Experte Frank Eliason, aber es erfordere auch wachsenden Einsatz. "Am Anfang war ich allein und rund um die Uhr beschäftigt. Jetzt arbeiten wir im Team und mit modernen Software-Werkzeugen. Ich könnte locker 100 Leute einstellen – anders lässt sich dieses Modell bei 25 Millionen Kunden nicht im großen Umfang betreiben."

Der Vorteil, Kundendienstfragen auf elektronischem Wege zu beantworten, liegt für Eliason auf der Hand: Seine Techniker wissen von Problemen in einer bestimmten Gegend Minuten bis Stunden vorher Bescheid und müssen nicht warten, bis die Telefone im Callcenter heißlaufen. Eine Twitter-Blütenlese geht aus diesem Grund jeden Tag an 3000 Mitarbeiter im Unternehmen, damit sie sich ein Bild von der Stimmung im Land machen können. Doch Eliason warnt auch: "Wer sich als Unternehmen auf Twitter einlässt, muss auch damit klarkommen, dass man mit Kunden eine negative Unterhaltung führt, bei der es kein Happy End gibt." Die Twitter-Rendite dafür lässt sich bei Comcast jedoch real beziffern: Ein Kundenkontakt auf elektronischem Wege kostet lediglich 25 Cent, während ein Anruf mit mindestens 12 Dollar zu Buche schlägt.

Langfristig jedoch, glauben Marketing-Experten, steckt erheblich mehr Wert in der feinkörnigen Analyse von Twitter-Themen und der Weiterverbreitung einzelner Wortmeldungen. Die Zahl der Erwähnungen einer Marke im positiven wie negativen Kontext sowie der zeitliche Verlauf von Klickraten auf Links lassen erkennen, wie sehr, wie schnell und wie lange eine bestimmte Kampagne sich der Aufmerksamkeit der Twitter-Gemeinde erfreut. Das ist mindestens so wertvoll wie das Wissen über Suchbegriffe bei Google oder Yahoo. Dafür haben sich eine Handvoll von Desktop-Programmen etabliert, die es Firmen erlauben, mehrere Twitter-Konten professionell zu verwalten, die Diskussionen ihrer Kunden zu verfolgen und darauf zu reagieren. Mit der Software PeopleBrowsr kann ein Unternehmen Tweets nach Lob oder Tadel sortieren. Zusätzlich antwortet sie mit vorbereiteten Texthäppchen, die für den Empfänger wie eine individuelle Nachricht aussehen, aber in Wirklichkeit Teil einer automatisierten Marketing-Kampagne sind. Die professionelle Software kostet: In knapp ein Dutzend Programme wie CoTweet, HootSuite oder PeopleBrowsr haben Venture-Kapitalgeber bislang schätzungsweise rund 23 Millionen Dollar investiert.

Bei so viel geldwertem Nutzen möchte auch Twitter ein Stück von dem Kuchen, den es selbst gebacken hat. Die Macher hinter dem boomenden Mikroblogging-Dienst überlegen seit geraumer Zeit, sich die bisher kostenlose Nutzung ihres weltweiten Kommunikationsnetzes bezahlen zu lassen. Einen erheblichen Teil dieser Einnahmen sollen dabei Firmenkunden und Abonnements liefern. Einem internen, im vergangenen Sommer an die Öffentlichkeit gelangten Dokument ist zu entnehmen, dass Twitter im kommenden Jahr mit 140 Millionen Dollar und bis 2013 mit 1,5 Milliarden Umsatz rechnen könnte. Laut einer Umfrage des Finanzdienstes Dow Jones unter Twitter-Nutzern sind 14 Prozent bereit, eine Monatsgebühr zu zahlen, weitere 24 Prozent würden an einem gebührenpflichtigen Profikonto Gefallen finden.

Ein entsprechendes Geschäftsmodell sei bereits in Planung, versicherte Mitgründer Biz Stone im August. "Wir wollen Statistiken und Analysen anbieten, die Nutzern sagen, wie sie auf Twitter dastehen", so Stone. Dazu würde der Mikroblogging-Dienst spezielle Programm-Schnittstellen (APIs) schaffen, auf die eigene wie externe Analysesoftware zugreifen kann. Das funktioniert in gewissem Umfang bereits, ist jedoch hinsichtlich der Zahl der Abfragen und des Analyseumfanges beschränkt. In diesem Sinne sind unlängst getroffene Vereinbarungen mit Microsoft und Google, Tweets in deren Suchmaschinen einzuschließen, ein erster Schritt zum bezahlten Zugang für Großkunden. Zudem hätten Unternehmen die Option, ihre Twitter-Konten gegen Gebühr verifizieren zu lassen, damit Anhänger die Gewähr haben, wirklich einer Bank oder einem Restaurant anstatt einem Hochstapler zu folgen. Eine internationale Marke könnte so auch regionale oder sogar örtliche Filialen tweeten lassen – und im Gegenzug auswerten, wo genau ihre Fans und Kritiker sitzen und welche Sonderaktionen die beste Resonanz auslösen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist ein Geodaten-API, das Twitter kürzlich vorgestellt hat. Damit wäre auch der geografische Ursprung der Tweets einsehbar.

Das Feilen an solchen Funktionen kostet allerdings wertvolle Zeit. Je länger Twitter mit seinen Profi-Angeboten wartet, umso mehr etablieren sich kostenpflichtige Programme wie CoTweet, die Ähnliches leisten und bereits Großkunden von Starbucks über Microsoft bis Ford gewinnen konnten. Im August zog die Firma aus Pennsylvania 1,1 Million Dollar Wagniskapital an Land. "Wir verstehen uns als Fortentwicklung eines Kundenmanagement-Systems – eine Art Callcenter für das Twitter-Zeitalter", erklärt CoTweet-Manager Aaron Gotwalt die Browser-basierte Software, mit der sich Tweets ähnlich wie früher Beschwerdezettel an Sachbearbeiter weiterleiten lassen. Deswegen sieht sich die Neugründung in Konkurrenz mit etablierten Kundenpflege-Anbietern wie Salesforce.com oder SugarCRM. Auf Dauer besteht damit die Gefahr, dass Twitter selber an Anziehungskraft verliert. Bereits jetzt sind fünf Programme für 82 Prozent aller Tweets verantwortlich, egal ob sie vom PC oder dem Mobiltelefon aus verfasst werden.

Je zahlreicher und ausgeklügelter die Benutzeroberflächen und Analysewerkzeuge dieser Dienste werden, desto weniger Anreiz haben Nutzer, ausgerechnet auf den Seiten von Twitter ihre Kurznachrichten zu verbreiten. Am Ende könnte dem von den Twitter-Gründern entwickelten Protokoll zum Versand von Kurznachrichten das Schicksal der guten alten E-Mail drohen: Was anfangs ein Flickenteppich verschiedener Standards für sogenannte "Early Adopters" war, die alles Neue ausprobieren und technisches Vorwissen besitzen, entwickelte sich zu einem gebräuchlichen Protokoll namens SMTP, um Nachrichten zwischen verschiedenen Netzwerken und Programmen auszutauschen. Heute ist sowohl der Standard als auch der Transport zum irrelevanten Fundament geworden, jeder benutzt das E-Mail-Programm seiner Wahl, vom Klassiker wie Eudora über Microsoft Outlook bis hin zu dem frei erhältlichen Mozilla Thunderbird.

Schon jetzt haben sich erste geschlossene Mikroblogging-Dienste wie Yammer oder Present.ly als gebührenpflichtige Firmenlösungen etabliert, die Twitter rechts und links überholen können, sobald es einen allgemein gültigen Standard zum Austausch von Meldungen gibt. "Twitter selber wäre über kurz oder lang nur noch ein Protokoll von vielen", sagt der Internet-Unternehmer und Web-Vordenker Nova Spivack. "Andere ziehen nach, stehlen ihnen die Schau und machen das Geld." (bsc)