Was war. Was wird.
Was sind schon Menschenrechte, wenn der Yuan winkt? Was ist schon Gleichheit, wenn die unselige Fratze des Massenmenschen droht? Hal Faber ereifert sich.
Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.
Was war.
*** Der Schnee türmt sich in der norddeutschen Tiefebene. Ich vermisse eine Sondersendung über den Allday mit Daisy. Doch längst beherrscht eine richtige Katastrophe die Nachrichten, allem Kachelklatsch zum Trotz: Im ärmsten Land Lateinamerikas spielt sich das ab, was die Medien gern eine "humanitäre Katastrophe" nennen, komplett mit landenden Hilfsgütern ohne Ende. Das über viele Jahre hinweg diverse Dikatoren Haiti ruinierten, wird nachgerade verklärt. Denn ein gescheiterter Staat kann sich wenigstens nicht ins ordentliche Katastophenmanagement der US-Truppen einmischen. Statt Daisy-Tweets lesen wir nun die ohne Schnee aus Haiti – wie fesch ist das?
*** Ja, Hänschen klein, ging allein in die weite Welt hinaus, mit Googlemut und Stock und Hut, ging es lange Gut. Die "Wir-sind-nicht-böse-Woche" endete nicht nur mit einem schlichten Nein der Firma, die mit ihrem Insecurity Explorer den ganzen Schlamassel ausgelöst hat und einem Protest der USA, dass Google nun auch die amerikanische Außenpolitik übernommen hat. Nein, da meldete sich prompt der deutsche IT-Branchenverband Bitkom und forderte jammernd einen freien Zugang zum chinesischen Markt. Ja, liebe IT-Lobbyisten, nur keine falsche Scham und Prüderie: Was sind schon Menschenrechte, wenn der Yuan winkt? Die Technik lehrt es ja: ohne die Nullen kann es keine Einsen geben. Passend zum Schmu von Google und zum China-Besuch unserers Außenministers kommt nun die Nachricht, dass in China die Wahl zum Mr. Gay von der Polizei gestoppt wurde. So wird es Zeit für ein schwul-solidarisches WWWW, mit einem ordentlichen amerikanischen Ruf: YMCA!
*** Die Frankfurter Allgemeine Zeitung befeuert seit Tagen die Debatte um ein Payback genanntes Buch ihres Kulturchefs mit einer Reihe von Texten, die es den Internet-Apologeten heimzahlen. Da findet sich die Beschreibung des Menschen als Datensatz durch den Denkchef des CCC, komplett mit der Forderung nach einem Datenbrief als Auskunftspflicht aller Unternehmen und der persönlichen Haftung von Unternehmern bei "Sicherheitsschwankungen". Außerdem kann ein Interview mit Jaron Lanier erklickt werden, der in seinem neuen Buch bekannte Texte neu zusammenmischt. So prangert Lanier wieder einmal den digitalen Maoismus des Web 2.0 an: Oberflächlich betrachtet sind wir alle gleich in der digitalen Welt, aber es gibt Gleichere, etwa A-Blogger und Wikipedia-Admins. Nicht alle sind Straight Boys.
*** In Laniers Buch "You are not a Gadget – You have to be somebody before you can share yourself" wird eine Passage aus seinem Halben Manifest ausführlich ausgebreitet, die der VR-Forscher für die Urszene der Computerei hält. Es ist der berühmte Turing-Test, den Alan Turing nach Ansicht von Lanier unter dem Einfluss einer medikamentösen Zwangsbehandlung seiner Homosexualität in einer schwer depressiven Phase entwickelte. Deshalb übersah Turing die eigentliche Logik des Testszenarios: Zwar kann die künstliche Intelligenz immer "klüger" werden, bis der Mensch sie nicht mehr als Computer wahrnehmen kann, genauso kann aber auch der Mensch immer "dümmer" werden, bis Gleichstand erreicht ist. Computer und Programme halten sich seit den Tagen von Turing an Variante 1, während das Fernsehprogramm mit seinen alltäglichen Verdummungen demonstriert, dass Variante 2 genau so zielstrebig verfolgt wird. Immerhin: Aus einem schwulen "Defekt" entfaltet sich das Drama des 22. Jahrhunderts. Es ist halt ein wunderbar dialektisches, schönes Geschenk, das Turing uns gemacht hat.
*** Lanier kämpft also gegen die iHobos, die Gesichtsbuchspießer mit ihren tollen Freundeskreisen und die Zwitschervögel mit ihren Schwärmen von Zweitleuchtern. Auch gegen die strunzdumme Überzeugung der 2.0-Prediger, dass Wissenschaft überflüssig ist, weil die Weisheit der Massen jedem wissenschaftlichen Erklärungsansatz überlegen ist. Gewiss, das Dasein als iHobo hat seinen Reiz, wird einem doch das Denken abgenommen. Es ist kein Zufall, dass die Firmen wie Sun oder Oracle, die von dem wolkigen Cloud Computing profitieren, Denker in ihren Reihen haben, die die Privatsphäre für beendet erklären. Get over it? Die Privatsphäre ist nicht mehr zeitgemäß auf Facebook? Wer will dann laut beim Lied vom tollen Iwan mitsingen?
*** Ist die Haltung elitär, wie das Interview von den 2.0-Fanboys abgekanzelt wird? Ortega y Gasset, im Dezember 1933, drei Jahre vor Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs und ein Jahr nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in Deutschland, schrie "zum ersten Mal mit der Lungenkraft, die mir geblieben ist" gegen den Marsch ins Dritte Reich: "Es lebe die Republik!". Und schrieb im "Aufstand der Massen", dass die "Massen ihrem Wesen nach ihr eigenes Dasein nicht lenken können noch dürfen und noch weniger imstande sind, die Gemeinschaft zu regieren ..." Das hört sich ganz nach den Warnungen vor dem "digitalen Mob" von Jason Lanier an, zumal Gassets Beschreibung der "ungerichteten Aggressivität" der Massen, die er mit der Aufhebung der Unterscheidung zwischen Massen und Elite begründet, sehr an die Herrschaft einer technischen Elite erinnert, mit der viele unserer Internetvordenker heimlich oder in aller Offenheit zu liebäugeln scheinen.
*** Ist der Jude Jaron Lanier nur falsch gefragt worden? Von seinem Diktum "Ohne Nachzudenken ist es schwer, ein Individuum zu sein" ist es nur ein kurzer Schritt zu Ortega y Gassets "Die Welt ist zivilisiert, aber ihre Bewohner sind es nicht; sie sehen nicht einmal die Zivilisation an ihr, sondern benutzen sie, als wäre sie Natur." Der Mob als gedankenlose, amorphe und jeder Aufregung nachstrebende Masse, ist er denn das Gegenteil des denkenden Einwohners des Social Web, der ach so informierte Entscheidungen im Echtzeit-Internet zu treffen in der Lage ist? "Es ist also nicht unwichtig, den Massenmenschen aus dem Grunde zu kennen; denn er birgt die Möglichkeit zu größtem Heil wie größtem Unheil in sich", meinte Gasset, der gerade die Wissenschaftler und Techniker mit ihrer historischen Unbewusstheit und gelehrten Ignoranz als Prototypen des Massenmenschen sieht. Die sind nun nicht unbedingt "the one you love".
*** Wir sehen die FAZ auf der Suche nach einem klugen Kopf, während die Zeitung selbst längst geshreddert ist und ihre Schnippsel von der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen gelesen werden. Das bringt uns hupps, hupps, zu der Mörderknete, die die Zeitungen jetzt von Google für die Schnippsel haben wollen – und das als Rettung der abendländischen Kultur verkaufen. Ja, von Google wollen sie alle Geld, da gibt es nicht die kleinsten Bedenken, was Google sonst so aus uns macht. Man sieht es am Nexus, das mein innig geliebtes G1 ablösen soll, wenn auf einmal die Erben des Mannes aufkreuzen, dem wir viele Geschichten aus der Zeit verdanken, als heute das Morgen von gestern war. Da wäre die Geschichte der Keks-Dame, der Cookie Lady, die das Leben aus Bubber Surle saugt, oder die der Marsianer, die nur in der Wolke handeln können. Wo bleiben die Zahlungen all der Browser, die Cookies benutzen und vom Cloud Computing reden? "Nur Verräter schließen Kompromisse", schrieb Philip Kendrian Dick.
Was wird.
Wanderer, kommst du nach Hannover zur CeBIT, der schönsten Stadt der norddeutschen Tiefebene: Wundere dich nicht. Da haben wir seit nunmehr zwei Jahren allen CeBIT-Besuchern mit Auto die Feinstaubplakette verscherbelt mit dem Versprechen, dass eines Tages nur die "Grünen" reindürfen. Eigentlich wäre es jetzt soweit, doch wir haben einen FDP-Umweltminister in Niedersachsen, der wieder einmal beweist, dass dieses Wörtchen "Freie" die Kurzform von "merkbefreit" ist. Per Erlass wird alles revidiert, damit auch die "Gelben" wieder fahren dürfen. Steuererleichtert erfahren wir seltsames Zeug wie den Plan von der elektronischen Gesundheitskarte, die plötzlich eine Bezahlungsfunktion haben soll.
Es kommt noch besser, Wanderer, wenn du es in der nächsten Woche bis nach München schaffst. Dort steigt am Wochenende der Digital Lifestyle Day, als 2.0-fluffige Veranstaltung mittlerweile in Digital, Life, Design umbenannt. Kurz bevor sich der Homo Davosiensis (Richard Sennett) in den Schweizer Bergen ans Entlüften der vollgestaubten Gedanken macht, werden seine Pupse im Vorflachland als Trends offeriert. So gibt es ein Panel über Informavore, die Informationsfresserchen, die nach den Pflanzen- und Fleischfressern die Erde bevölkern werden. Mit 2500 Euro für die Eintrittskarte distanziert man sich von ähnlichen Veranstaltungen wie der re:publica, wo Netzpolitik für Arme verhandelt wird. Natürlich sind alle Preisschilder nur symbolisch gemeint, das wissen die Vereinstalter und Mob-Dresseure. Umso freudiger stimmen sie alle in den Song schlechthin ein: I will survive. (jk)