Gelähmter Patient kann mit Gehirn-Rückenmark-Schnittstelle wieder gehen

Forscher haben mit einer digitalen Brücke die Kommunikation zwischen Gehirn und Rückenmark wiederhergestellt. Das System funktioniert per Gedankensteuerung.

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(Bild: greenbutterfly/Shutterstock.com)

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Für den Schweizer Gert-Jan ist ein Traum vieler Gelähmter wahrgeworden. Dank einer kabellosen Schnittstelle zwischen Gehirn und Rückenmark, die als digitale Brücke zwischen beiden Regionen fungiert und "Gedanken in Taten umwandelt", hat er die Kontrolle über die Bewegung seiner gelähmten Beine ein Stück weit wiedererlangt. Der 40-Jährige kann damit mithilfe von Gehhilfen für einige Zeit stehen, laufen und sogar Treppen steigen. Der Patient freut sich, dass es ihm so wieder möglich ist, mit Freunden an einer Bar ein Bier zu trinken: "Dieses einfache Vergnügen stellt eine bedeutende Veränderung in meinem Leben dar."

Schwere Verletzungen des Rückenmarks, die den Austausch mit dem Gehirn unterbrechen, können bleibende Lähmungen verursachen. Schweizer und französischen Forscherteams aus Lausanne und Grenoble ist es nun erstmals gelungen, über ein implantiertes "Brain-Spine-Interface" (BSI) diese Kommunikation in Echtzeit bei dem Probanden wiederherzustellen, der an der klinischen Studie Stimo-BSI teilnimmt. Laut Ergebnissen, die die Wissenschaftler am Mittwoch im Fachjournal "Nature" veröffentlicht haben, konnte Gert-Jan, der aufgrund eines Unfalls seit zehn Jahren an Arm- und Beinlähmung litt, wieder ein "natürliches" Gefühl der Steuerung der Bewegungen seiner Beine gewinnen.

Um die digitale Brücke zu bauen, sind laut dem Bericht zwei Arten elektronischer Implantate erforderlich. Der erste Teil des speziellen "Brain-Computer-Interface" (BCI) besteht aus zwei Elektrokortikographie-Einbauten in der Schädeldecke des Patienten, die jeweils die neuronale Aktivität an 64 Elektroden messen und an eine tragbare Recheneinheit weitergeben. Ein solches System hatten Forscher der Uni Grenoble schon 2019 dargestellt. Auf Basis der so generierten Daten errechnet der Computer die gewollte Bewegung und übersetzt sie in Stimulierungsbefehle, die dann in Echtzeit an das zweite implantierte System weitergegeben werden. Es befindet sich im Rücken, wo ein elektrischer Pulsgeber und ein Elektroden-Array mit 16 kleinen Stromleitern die Motor-Neuronen im Rückenmark entsprechend stimulieren und die Muskeln gezielt aktivieren.

Das Team habe spezielle Geräte "über der Region des Gehirns implantiert, die für die Steuerung der Beinbewegungen verantwortlich ist", erläutert die Neurochirurgin Jocelyne Bloch von der Universitätsklinik Lausanne. Diese vom französischen Forschungszentrum für Kernenergie (CEA) entwickelten Implantate erlaubten es, "die elektrischen Signale zu entschlüsseln, die das Gehirn erzeugt, wenn wir ans Gehen denken. Zudem haben wir einen damit verbundenen Neurostimulator positioniert."

"Dank Algorithmen, die auf adaptiven Methoden der Künstlichen Intelligenz basieren, werden Bewegungsabsichten in Echtzeit aus Gehirnaufzeichnungen entschlüsselt", führt Guillaume Charvet, BCI-Projektleiter beim CEA, aus. Diese Intentionen würden dann "in Sequenzen elektrischer Stimulation des Rückenmarks umgewandelt".

Den Autoren zufolge ließ sich das BSI innerhalb weniger Minuten kalibrieren und funktionierte über den Beobachtungszeitraum von einem Jahr zuverlässig, auch bei unabhängiger Nutzung zu Hause. Die durch die digitale Brücke unterstützte Rehabilitation habe es Gert-Jan ermöglicht, neurologische Funktionen wiederherzustellen, die er seit seinem Unfall verloren hatte. Die Forscher konnten nach eigenen Angaben "bemerkenswerte Verbesserungen seiner Sinneswahrnehmungen und motorischen Fähigkeiten" nachweisen, selbst wenn die digitale Brücke ausgeschaltet war. Diese "digitale Reparatur des Rückenmarks" lasse darauf schließen, "dass sich neue Nervenverbindungen entwickelt haben".

Der Patient hatte im Vorfeld der Studie bereits an einem fünfmonatigen Neurorehabilitations-Programm mittels Elektrostimulation des Rückenmarks teilgenommen. Nach etwa drei Jahren eigenständiger Nutzung der Technik erreichte er aber ein Rehabilitations-Plateau. Weitere Verbesserungen stellten sich also nicht mehr ein. Obwohl diese Vorgeschichte von Gert-Jan die Konfiguration des BSI beschleunigt hat, erwarten die Forscher keine größeren Hürden für die Implementierung einer digitalen Brücke bei anderen Betroffenen.

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Bislang sei die Technik nur an einer Person getestet worden, räumen Bloch und Grégoire Courtine, Neurowissenschaftler an der Ecole polytechnique fédéral de Lausanne (EPFL), ein. Sie denken aber, dass künftig eine vergleichbare Strategie sogar "zur Wiederherstellung der Arm- und Handfunktionen eingesetzt werden könnte". Prinzipiell sei die Schnittstelle auch bei anderen klinischen Indikationen anwendbar wie Lähmungen aufgrund eines Schlaganfalls. Die Forscher schreiben: "Das Konzept einer digitalen Brücke zwischen Gehirn und Rückenmark läutet eine neue Ära in der Behandlung motorischer Defizite aufgrund neurologischer Störungen ein."

Experten, die das Science Media Center (SMC) befragt hat, warnen vor überzogenen Hoffnungen. Die Forscher hätten durchaus "in mehreren Bereichen Fortschritte erzielt", meint Rainer Abel, Chefarzt der Bayreuther Klinik für Orthopädie und Querschnittsgelähmte. Schlüsselaspekt sei, "dass das Ganze in Echtzeit funktioniert". Bisher hätten Probanden intensiv an etwas denken und sich darauf konzentrieren müssen. Hier werde direkt die Imagination der Bewegung am Motokortex erkannt und weitergegeben. Das sei schon "so ein bisschen ein iPhone-Moment", auch wenn der Patient "außergewöhnlich diszipliniert" und risikobereit gewesen sei. Der Wiener Biomediziner Winfried Mayr spricht ebenfalls von einer "vielversprechenden Prototypenlösung", selbst wenn es sich nur um einen "spektakulären" Einzelfall handle.

Brain-Spine-Interface – der Schweizer Gert-Jan (15 Bilder)

(Bild: EPFL)

Der Nachweis der Übertragbarkeit auf andere Probanden lasse weiter auf sich warten, gibt Norbert Weidner, Ärztlicher Direktor der Heidelberger Universitätsklinik für Paraplegiologie, zu bedenken. Die Studie sei laut ihrer Beschreibung für zehn Patienten konzipiert gewesen. Aus der Arbeit gehe nicht hervor, warum nur ein einziger beschrieben werde. Gert-Jan habe sich ferner orthopädischen Eingriffen im Bereich der Beine unterzogen, die ebenfalls zu einer stabileren Geh- und Stehfunktion führen könnten. Es lasse sich so keine verlässliche Aussage treffen, ob und inwieweit die berichteten Effekte auf weitere Gelähmte übertragbar seien oder gar auf Patienten mit anderen neurologischen Erkrankungen.

(bme)