Big Brother 2.0

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Big Brother 2.0

Neulich hatte ich Geburtstag. Zugegeben, das passiert, seit ich denken kann, jedes Jahr, aber diesmal war etwas anders: Noch nie hatte ich so viele Glückwünsche bekommen. Im Vorjahr gratulierten einige Kollegen, Familie, Freunde und Bekannte. Dieses Jahr war es: nahezu jeder.

Auf dem Weg von der Bahn rief mir ein Kollege von der Technology Review ein freundliches "Herzlichen Glückwunsch" zu. Wir hatten uns bisher höchstens gegrüßt, und plötzlich wusste er meinen Geburtstag. Ich freute mich. Er schien nett zu sein. Mein E-Mail-Postfach, so stellte ich kurz darauf fest, war an meinem Ehrentag doppelt so voll wie üblich. Abseitigste Geschäftspartner richteten mir ihre besten Wünsche zum Wiegenfest aus. Über alle Kanäle prasselten Gratulationen auf mich ein.

Nachdem ich einige Gratulanten diskret ausgefragt hatte, kristallisierten sich drei Informationsquellen heraus: Xing, Facebook und Skype. In einem Anflug von Selbstschutz hatte ich zwar im Jahr zuvor Profile gelöscht oder auf privat gesetzt, an anderer Stelle aber unbemerkt wiederum große Aktivität entfaltet, wobei die Aktivität in nicht mehr bestehen muss, als eher passiv nur die regelmäßig eintreffenden Kontaktwünsche abzunicken. Das schlug sich in tsunamiartigen Glückwunschkaskaden nieder.

In der vergangenen Legislaturperiode zierte der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble T-Shirts und Wände, auf denen unter seinem stilisierten Konterfei der Schriftzug "Stasi 2.0" prangte. Über die sozialen Netzwerke ist nun jeder sein eigener "Big Brother 2.0". Wer braucht da noch rumschnüffelnde Regierungsstellen? Mir wird dabei mulmig, denn es gibt keine persönliche Information, die sich nicht missbrauchen ließe. Was ist, wenn irgendwann eine radikal-esoterische Sekte die Macht ergreift und alle Angehörigen des Sternzeichens Schütze internieren lassen will? Die finden mich! Sofort! Schließlich hänge ich selbst überall Steckbriefe aus.

Das alles muss nicht sein. Meine Eltern sind im Web völlig anonym – allerdings auch kaum aktiv. Sollte ich mich also freiwillig aus den virtuellen Visitenkartensammlungen ausschließen und willentlich auf den Kontakt zu Urlaubsbekanntschaften aus aller Welt verzichten? Es gibt anscheinend nur zwei radikale Lösungen: sich selbst und seine Daten zum virtuellen Freiwild erklären oder sich als digitaler Eremit von den Marktplätzen und Treffpunkten des Web zurückziehen.

Offenbar finden viele einen dritten Weg. Laut einer jüngst erschienen Umfrage des Verbandes BITKOM in Kooperation mit dem Forschungsinstitut Forsa haben 23 Prozent der Internetnutzer in Deutschland schon einmal falsche Angaben gemacht. Das entspricht 12 Millionen Nutzern. Sie haben für sich entschieden, dass nicht jedes Feld – und sei es auch ein Pflichtfeld – mit der wahren Information befüllt werden muss. Wer noch keinen sechsten Sinn für die Informationsgesellschaft entwickelt hat, sollte sich beeilen, das nachzuholen. Ich habe soeben begonnen. (bb)